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Wenn Panikattacken plötzlich dein Leben bestimmen – Die Geschichte einer jungen FrauPanikattacken – Das Leben mit der Angst

ALSFELD (ls). Es kommt von einem auf den anderen Moment. Das Herz fängt an zu rasen und wird durch ein schmerzhaftes Stechen begleitet. Der ganze Körper zittert. Man schwitzt und friert zur gleichen Zeit. Um einen herum wird es plötzlich furchtbar eng. Alles dreht sich und man bekommt keine Luft mehr. Als müsste man sterben. Nichts bleibt mehr übrig außer der Flucht. So, oder so ähnlich fühlen sich Panikattacken an.

Eine Situation, die Sarah P.* nur zu gut kennt. Sie durchlitt diesen Zustand noch bis vor einem Jahr fast jeden Tag. Sarah hat Panikattacken. Warum und weshalb weiß sie nicht. Was sie allerdings weiß ist, dass sie sich das nicht einbildet – auch wenn das viele Menschen denken. Die Panik packt sie völlig unvorbereitet und steigt immer weiter in ihr auf, bis sie binnen weniger Minuten alle Sinne ergreift. Einbildung ist es nicht, auch wenn die auslösenden Situationen zunächst banal erscheinen. Es ist echte Todesangst, die sie packt und vorerst nicht mehr verlässt.

Menschen wie Sarah leiden an Panikattacken und kämpfen in diesen Situationen gegen das volle, aber trügerische Spektrum an realen Angstsymptomen an, die sie in diesen Momenten als lebensbedrohlich empfinden. „Während einem Anfall sind psychische und körperliche Symptome eng miteinander verwoben. In der Regel treten dabei Herzrasen, Hitzewallung, Schweißausbrüche, Zittern, sowie auch Beklemmungen und Ohnmachtsgefühle auf“, bestätigt Judith Julia Hahn. Die ausgebildete Entspannungstrainerin beschäftigt sich in ihrer Heilpraxis schon seit sieben Jahren mit Panikattacken und deren Behandlung.

 

Ähnlich erging es auch Sarah. Damals war sie gerade 20 Jahre alt und saß in einer Vorlesung, als sie plötzlich nicht mehr wusste was um sie herum passierte. „Mir wurde schwindelig – alles drehte sich. Ich bekam keine Luft mehr und mein Herz hat furchtbar gerast, sodass mir schlecht wurde“, beschreibt Sarah ihre erste Panikattacke. „Ich musste einfach raus. Und dann bin ich gelaufen. Solange bis ich wieder atmen konnte“, erzählt sie weiter. Ein Moment, von dem sie nicht ahnte, wie folgenschwer er für ihr Leben würde. Es war ihre erste Begegnung mit der Angst, die nicht ihre Letzte sein sollte.

Panik vor großen Räumen

Agoraphobie: Angst vor großen, weiten Plätzen. Klaustrophobie: Angst vor engen, geschlossenen Räumen. Foto: Anja Kierblewski

Panikattacken – Ein Tabuthema in der Gesellschaft

Über 10 Millionen Menschen in Deutschland leiden unter Angst- und Panikstörungen – Tendenz steigend, von der Dunkelziffer mal ganz zu schweigen. „Bevor es zu Angst- oder Panikstörungen kommt, haben im Vorfeld in der Regel bereits einige Warnsignale des Körpers geschrillt und wurden nicht gehört“, so Hahn. Die Gründe für die steigende Anzahl sieht sie in der Gesellschaft. Schneller, besser, reicher, schlanker, schöner und erfolgreicher. Im Leistungsdruck lauere die Gefahr der Überforderung und diese fördere inneren Stress gegen den viele nicht ankommen. Besonders erschreckend empfindet sie dabei die Fälle von Überforderung, Angststörungen und somatischen Störungen ohne Diagnose, wie sie bereits bei Kindern und Jugendlichen zu finden sind.

Gesprochen wird darüber allerdings nur selten. Warum aber ist das so in unserer Gesellschaft? Die Antwort darauf ist ebenso einfach wie beängstigend: Angst. Angst vor der Ausgrenzung in der Gesellschaft. „Ich habe dafür nicht wirklich Verständnis. Wenn jemand körperlich krank ist, dann kann derjenige nichts dafür. Wenn jemand psychisch krank ist, dann wird man oft als geisteskrank abgestempelt, was ja nicht der Fall ist“, erläutert Sarah ihre Befürchtungen, offen über ihre Angst zu sprechen. Für psychische Probleme hätten die meisten Menschen kein Verständnis. Eher vermittelten sie Betroffenen das Gefühl, selbst an ihrer Lage schuld zu sein oder zu übertreiben, beklagt sie weiterhin.

Körperliche Erkrankungen als Ausrede

Bei ihrer ersten Panikattacke wusste Sarah noch nicht ganz wie ihr geschieht. Sie dachte sie sei müde und saß auch immerhin schon seit 8 Uhr in die Uni. Richtig bewusst wurde es ihr auch bei ihrer zweiten Panikattacke nicht, auch da traf es sie wie ein Schlag. Beim zweiten Mal war sie Zuhause – alleine. Wieder fing ihr Herz an zu rasen. Ihr wurde schwindelig und sie bekam keine Luft. „Es fühlte sich an als hätte ich einen Herzinfarkt – ich war hilflos und dachte ich müsste sterben. Heute weiß ich, dass ich mich noch mehr reingesteigert habe“, beschreibt Sarah ihre nächste Attacke.

Sie ließ sich von ihrer Mutter abholen und suchte direkt am nächsten Tag diverse Ärzte auf. Dort ließ sie ihr Herz untersuchen. „Ich habe mein Herz checken lassen, weil ich wirklich dachte, ich hätte einen Herzfehler. Ich war vollkommen gesund und habe sogar vergleichsweise ein sehr starkes Herz. Zu diesem Zeitpunkt dämmerte es mir, dass es meine Psyche ist, die mir zu schaffen macht“, erzählt sie.

So wie Sarah ergeht es vielen Panik-Patienten. Sie suchen die Gründe für ihre Probleme erst einmal im eigenen Körper. Das Paradoxe daran: Körperlich sind sie meist völlig gesund. Nur sind die Paniksymptome so fruchteinflössend, dass sie durch die unkontrollierbaren Körperreaktionen durch die zunehmende Angst verstärkt werden. Panikpatienten haben sogar oft ein stärkeres Herz als andere, da ihr Herzmuskel durch die hohen Adrenalinausschüttungen während der „Anfälle“ trainiert wird.

Tipp: Entspannung statt Anspannung

Ab diesem Zeitpunkt schien alles sehr schnell und gleichzeitig sehr langsam zu gehen. Sarahs Panikattacken wurden stärker und häufiger. Besuche bei Ärzten, Besuche bei Neurologen, Antidepressiva zur Behandlung, Anrufe bei Therapeuten, Aufenthalte in Krankenhäusern und eine ganz wichtige Erkenntnis: „Für mich stand eigentlich ab dem ersten Moment fest, dass ich keine Antidepressiva nehmen wollte. Ich wollte es anders schaffen“, rechtfertigt sie ihre damalige Entscheidung. Ihrer Meinung nach minderen diese lediglich die Symptome, packen das Problem allerdings nicht an der Wurzel. Sarah entschied sich zu einer kognitiven Verhaltenstherapie und zu einer progressiven Muskelentspannung, mit deren Hilfe sie lernte, sich selbst zu beruhigen, richtig zu atmen und damit ihre Panikattacken zu kontrollieren.

Auch das gibt es: Angst vor Bakterien. Betroffene haben nicht nur Panik davor sich anzustecken, sondern entwickeln aus Angst oftmals eine Zwangsstörung - den Waschzwang. Foto: Anja Kierblewski

Auch das gibt es: Angst vor Bakterien. Betroffene haben nicht nur Panik davor sich anzustecken, sondern entwickeln aus Angst oftmals eine Zwangsstörung – den Waschzwang. Foto: Anja Kierblewski

Als Heilpraktikerin und Entspannungstrainerin behandelt auch Judith Hahn Panikattacken in ähnlicher Weise, für die sich Sarah entschied. „Ich sehe nicht nur die Panikstörung sondern den Mensch als Ganzes. Man kann für eine gewisse Zeit ergänzend zu einer ganzheitlichen Behandlung zum Beispiel Bachblüten, Homöopathie oder auch Schüssler-Salze geben, aber ansonsten steht im Vordergrund den Auslöser zu behandeln und die Selbstheilungskräfte zu aktivieren“, erklärt sie. Dabei sei von besonderer Bedeutung, die eigenen Bedürfnisse und auch die eigenen Grenzen zu erkennen und umzusetzen.

Dazu arbeitet sie mit der progressiven Muskelentspannung, die das Körperbewusstsein durch wechselseitige Anspannung und Entspannung der Körperpartien fördert. Somit kann der Mensch herausfordernde Situationen besser meistern und ein gesundes Verhältnis zwischen Spannung und Entspannung in vielen Lebensbereichen herstellen. Eine Hilfe zur Selbsthilfe.

Ein weiterer Tipp: Konfrontation ist die beste Therapie

Viele Betroffene ziehen sich aus der Gesellschaft zurück und fangen mehr und mehr an sich zu isolieren. „Der Prozess einer Panikattacke kann sich schnell verselbstständigen, sodass die Betroffenen eine so große Angst vor der nächsten Attacke entwickeln, sodass die Angst vor der Angst den Alltag bestimmt“, erklärt sie weiter. Patienten vermeiden es zunächst zunehmend, angstauslösende Situation zu stellen. Doch diese werden meist immer häufiger, treten immer öfter in unterschiedlichen Situationen und an verschiedenen Orten auf – bis sich die Betroffenen irgendwann nicht mehr trauen, unter Menschen zu gehen. Um dem Kreislauf zu unterbrechen oder erst gar nicht in ihn zu geraten, ist Konfrontation die beste Therapie. Sprich: Panikattacke während einer Busfahrt? Sofort die nächste Runde fahren, um sich zu beweisen, dass die Angst unabhängig von der Busfahrt ist.

Trotz allem ist Sarah auch fünf Jahre nach der Diagnose noch nicht vollkommen erlöst. Auch heute redet sie nicht öffentlich darüber. „Ich habe immer noch Probleme damit. Bestimmte Situationen machen mich immer noch nervös. Manchmal wache ich morgens auf und bin den ganzen Tag über nervös und angespannt, aber das ist dann eine Ausnahme und nicht mehr die Regel wie früher“, erklärt sie. Mittlerweile kann sie ihre Panikattacken kontrollieren und sich selbst beruhigen. Die Auslöser ihrer Panikattacken? Die kennt sie mittlerweile und geht offen damit um. Dadurch konnte Sarah ein großes Stück Freiheit zurück gewinnen, das sie vorher angstbedingt verloren hatte.

*Der Name wurde auf Bitte der Befragten von der Redaktion geändert.

'Mängelexemplar' von Sarah Kuttner
„Mängelexemplar“ lautet der Titel eines Buches und des gleichnamigen Filmes, der im Frühjahr diesen Jahres in den deutschen Kinos lief. In beiden leidet die Protagonistin unter Panikattacken, die sie immer wieder in die Notaufnahme bringen. Mit erfrischendem Galgenhumor wird die schwere der Erkrankung und deren Auswirkungen auf das soziale Umfeld, Denken und Handeln der jungen Frau dargestellt – so dass auch Leser und Zuschauer ein Gefühl für das Leid bekommen. Absolut empfehlenswert!

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