Top-Fotograf Gerd Ludwig gibt ein Buch zu Tschernobyl rausAnsichten aus einem verstrahlten Land
ALSFELD/LOS ANGELES. Wer Gerd Ludwig sprechen möchte, muss den richtigen Moment abpassen. Der 66-Jährige lebt eigentlich in Los Angeles, stammt aber aus Alsfeld und ist Reportagefotograf für das berühmte Magazin National Geografic. „Eigentlich“ heißt: Gerd Ludwig ist ständig auf der ganzen Welt unterwegs – dabei aber gelegentlich auch in seiner Heimatstadt zu Besuch. Ein Reportageziel beschäftigt ihn wiederholt: Tschernobyl – die Reaktor-Ruine. Jetzt gibt er dazu ein Buch heraus: Einsichten in eine Katastrophe, die die Welt veränderte.
Seit er 1993 zum ersten Mal den Katastrophenort besuchte, kehrte er immer wieder dorthin zurück und berichtete mehrfach fotografisch in National Geografic über die Folgen der Reaktor-Explosion: eine verstrahlte, verlassene Landschaft, dem Verfall preisgegeben, Menschen mit schweren Erkrankungen und Genschäden. Mit viel Feingefühl gelang es Gerd Ludwig auch, in Krankenhäusern und Heimen die späten Opfer der Katastrophe abzulichten: kranke und verkrüppelte Kinder. Mit solchen Bildern sind seine Reportagen Anklagen gegen den sorglosen Umgang mit der lebensfeindlichen Atomenergie.
Wenige Minuten Zeit in der Strahlenhölle
Und es gelang ihm, in das Innere der Atom-Ruine zu gelangen – so tief wie noch keinem westlichen Fotografen: bis in den Schaltraum, in dem 1986 die verhängnisvollen Befehle gegeben wurden, die eine Abschaltübung zur Katastrophe werden ließen. Sein Assistent hatte sich geweigert, ihn bei diesem Gang in die Strahlenhölle zu begleiten, und auch der Fotograf – eingepackt in einen Schutzanzug – hatte nur wenige Minuten Zeit, um seine Bilder zu machen. Es sind Dokumente eines Versagens, die gruseln lassen.
Es sind inzwischen viele Dokumente. Deshalb ist Gerd Ludwig jetzt dabei, diesem Thema ein ganzes Buch zu widmen: „The long shadow of chernobyl“ lautet der englische Titel – es wird aber auch in einer deutschen Version erscheinen. Wie bei einem Fotobuch üblich, ist es mit 3,5 Kilogramm recht gewichtig – aber es ist mehr als ein Buch mit 118 großformatigen Bildern. Es informiert in vier Kapiteln über Tschernobyl, die Katastrophe und ihre Folgen auf vielfältige Art – und enthält als besonderes Schmankerl auch damalige Dokumente des CIA, die aufzeigen, wie die Geschehnisse in den USA bewertet wurden. Einige Passagen der Dokumente sind geschwärzt. Das Projekt hat prominente Unterstützung gefunden: Michail Gorbatschow, jener frühere Premier der Sowjetunion, der den Kalten Krieg beendete, äußert sich in einem Essay.
Es ist ein teures Projekt. Und deshalb wählte der Fotograf zur Unterstützung einmal mehr eine in den USA bereits geläufige Form des Fundraising: Via Kickstarter will Gerd Ludwig 20.000 Dollar zur Anschubfinanzierung sammeln. Auf dem Weg hat er auch schon seine letzte Tschernobyl-Reise finanziert, nachdem sich andere Geldgeber nicht mehr hatten finden lassen – viele Menschen fanden aber, dass er die Reportage starten sollte.
Auf Einladung von Oberhessen-live erzählt Gerd Ludwig über sein Projekt.
Warum immer wieder Tschernobyl? Das war jetzt die neunte Reise in vier unterschiedlichen Jahren (1993, 2005, 2011, 2013) dorthin.
Dieses Fotobuch soll als ein umfassendes Dokument dieser von Menschen verursachten Katastrophe an die unzähligen Opfer von Tschernobyl erinnern und zukünftige Generationen vor den tödlichen Folgen menschlicher Hybris warnen.
Hat sich dort etwas spürbar etwas verändert seit der ersten Reise dorthin? Gibt es weniger Strahlung, kehren Menschen zurück?
Die Halbwertszeit von Caesium 137 beträgt 30 Jahre, diese Strahlung nimmt also jetzt schon ab. Die von Plutonium 239 beträgt jedoch über 24.000 Jahre! Das Bild, das wir von Tschernobyl kennen, ändert sich. Der Reaktor wird in den kommenden Jahren unter einer Hightech-Kuppel verschwinden. In Prypjat stürzen die ersten Gebäude ein.
Es gibt inzwischen sogar Tschernobyl-Tourismus. Ist denn der kurzzeitige Aufenthalt in der Nähe des Reaktor ungefährlich?
Kurze Aufenthalte weiter weg vom Reaktor sind ungefährlich, längere Aufenthalte in Reaktornähe werden den Touristen nicht gestattet.
Du hast direkt im Reaktor fotografiert. Wie lange wehrst du drin, und wie gefährlich war das?
Ich war so tief drin wie kein anderer westlicher Dokumentarfotograf. Bei meinem letzten Besuch tiefer als je zuvor. In einigen Räumen durfte ich mich bei meinem letzten Besuch nur Sekunden aufhalten.
Diese große Tschernobyl-Buch: Ist das ein Abschluss des Projekts Tschernobyl?
Es ist eine grosse Zäsur, aber nicht das Ende. Stay tuned for more!
Du bist jetzt 66 Jahre alt. Wird da nicht auch ein Fotograf mal müde von den Reportage-Abenteuern?
Eigentlich bin ich erst 40, aber wegen Tschernobyl sehe ich aus wie 66….. Im Ernst, ich will noch viele Jahre weiter fotografieren. Das ist ja nicht nur mein Beruf sondern auch Berufung und macht noch immer tierisch Spass.
Von Axel Pries
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