Nach 20 Jahren die erste TräneHochemotionaler Erntedankgottesdienst und ein stimmungsvolles Herbstfest im Haus Stephanus
ALSFELD (ol). Das Haus Stephanus in Alsfeld veranstaltete kürzlich ein Erntedankgottesdienst und Herbstfest, bei dem emotionale Momente und mitreißende Musik im Mittelpunkt standen. Pfarrer Horst Nold sprach über den Bezug zur Landwirtschaft, während der Auftritt des Shantychores „Blaue Jungs“ bei einer Bewohnerin nach 20 Jahren eine emotionale Blockade löste und sie die erste Träne vergießen konnte.
Emotionen pur beim Erntedankgottesdienst und Herbstfest des Hauses Stephanus: Ein Pfarrer, der sich um den sich immer mehr verlierenden Bezug zur Landwirtschaft und einiges mehr sorgte, mitreißende Shanties der „Blauen Jungs“ aus Alsfeld und eine Bewohnerin, die nach 20 Jahren emotionaler Blockade endlich die erste Träne vergießen konnte, berührten die Herzen, so hieß es in einer Pressemitteilung des Hauses Stephanus.
Beide Events haben längst einen festen Platz im Kalender des Alsfelder Alten- und Pflegeheims gefunden und besitzen laut Einrichtungsleiter Manuel Jöckel einen sehr hohen Stellenwert, weil sie ein wichtiger emotionaler Ankerpunkt beim Übergang in die dunkle Jahreszeit sind. Letztere sei bei vielen Menschen mit einem jahreszeitlich bedingten Stimmungstief und Erinnerungen an bereits Verstorbene verbunden.
Mit viel Herzblut und Liebe zum gestalterischen Detail vom Betreuungsdienst- und Event-Team um dessen Leiterin Minh Luis organisiert, ließ das zweieinhalbstündige Programm im Multifunktionsraum der beliebten Senioreneinrichtung kaum Wünsche offen, hieß es. „Der Herbst ist der Frühling des Winters“, sagte die Betreuungsdienst-Leiterin mit Blick auf die in bunten Farben erstrahlenden Baumblätter des Herbstes. Werde es kalt, freuten sich viele schon auf die ersten wärmenden Sonnenstrahlen. „Doch man muss dankbar dafür sein, was man hat“, betonte Minh Luis bei der Eröffnung des Herbstfestes.
Zuvor, beim Erntedankgottesdienst, brachte Pfarrer Horst Nold (Evangelische Kirchengemeinde Alsfeld) in Erinnerung, dass es für unsere Ernährung Gottes Segen bedürfe, der zur rechten Zeit für das passende Wetter sorge, es regnen und die Sonne scheinen lasse. Eröffnet wurde der Erntedankgottesdienst mit dem gemeinsamen Singen von „Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut“.
Nold ließ in seiner Predigt fünf Jahrzehnte Entwicklung mit sehr persönlichen Erinnerungen an die eigene Kindheit Revue passieren und warnte vor dem Verlust an Gemeinschaft. Obwohl im TV eine Kochshow nach der anderen liefe, dominierten inzwischen in Mikrowellen landende Fertigprodukte die Kühlschränke. Abends noch schnell eine Pizza in den Backofen geschoben, gehöre zum Zeitgeist, in der jeder arbeiten gehe. Heutzutage, so Nold, „muss alles nur noch schnell gehen“. „Bei meinen Großeltern waren die Kartoffeln im Keller und das Gemüse wuchs im Garten“, so Nold. Was verloren gehe, sei nicht nur die Kunst des Kochens und die Gemeinschaft am Esstisch, sondern der unmittelbare Bezug zur Landwirtschaft und das Bewusstsein, mit wie viel Aufwand die Erzeugung von Lebensmitteln in der Natur verbunden sei. Hätten sich Anfang der 1970er Jahre Eltern nicht vorstellen können, fertige Produkte zu kaufen, habe sich dies spätestens mit der Miracoli-Werbung geändert und Fertigprodukte ihren Siegeszug in den Supermärkten angetreten. Der heutigen Generation sei erspart geblieben, kilometerweit zu laufen, um ein Brot oder 1 Liter Milch zu kaufen. Es wäre dennoch schön, wenn von den Menschen erkannt würde, wie schön doch ein Stück Land und Garten und dass fruchtbare Erde ein Geschenk Gottes sei. Der Erntegottesdienst gebe Gelegenheit, Danke für die reichen Gaben Gottes zu sagen.
Vor dem Segen wurde gemeinsam das Lied „Wir pflügen und wir streuen“ gesungen. Der krönende Abschluss war „Großer Gott, wir loben dich“ vorbehalten. Nold versäumte nicht, sich beim Team vom Haus Stephanus für die Vorbereitung des Erntedankgottesdienstes und die wunderschöne Altardekoration zu bedanken, die ein „echter Hingucker“ gewesen sei. Dank gelte auch Claudia Bodenstein (Katholische Kirchengemeinde) für die musikalische Begleitung.
Höhepunkt beim Herbstfest war der von vielen Bewohner:innen sehnsüchtig erwartete Auftritt des Alsfelder Shantychor „Blaue Jungs“. Seit Jahren kommt diese beliebte Formation ins Haus Stephanus, um die schönsten Seemannslieder darzubieten und die Weltmeere zu erobern. Kurz nachdem Wilfried Geißler das Konzertprogramm vorgestellt hatte, ertönte zur Eröffnung das Lied “Blaue Jungs” – begleitet von emotionalen Szenen. Bei einer in Südniedersachsen lebenden Seniorin aus der Kurzzeitpflege, die gerade erst ins Haus Stephanus eingezogen war, flossen die Tränen wie ein Wasserfall. Just im Moment des Liedes habe sie sich an ihren verstorbenen Mann erinnert und sich diesem ganz nah gefühlt. 20 Jahre lang – nicht mal zur Beerdigung – habe sie auch nur eine einzige Träne vergießen können, gestand die hochbetagte Seniorin ein. Hierbei handelt es sich um ein Phänomen, das Wissenschaftler mit der „Selbstschutzfunktion des Körpers“ im Zuge traumatischer Ereignisse zu erklären versuchen. Die Frau erinnerte sich an unvergessliche Momente mit ihrem Mann, mit dem sie fast 70 Jahre verheiratet war und der selbst als Sänger, Ansager und Entertainer Menschen Freude gespendet habe, bei Auftritten zwischendurch Witze erzählte und Gedichte vortrug. Reisen nach Dänemark, ans Steinhuder Meer in der Region Hannover und nach Österreich wurden bei der Seniorin ganz plötzlich wieder lebendig. Bei Liedern zum Mitsingen und Mitschunkeln wie „Eine Seefahrt, die ist lustig“, „Ein Schiff wird kommen“ oder „Lieder zum Träumen“ übertrug sich die Leidenschaft und Begeisterung der Sänger auf die Seniorinnen und Senioren, hieß es. Die sangen nicht nur mit, sondern schunkelten Hand und Hand zu den Liedern mit. Bei diesem, so der einhellige Tenor aller Beteiligten, “wunderschönen Fest” durften natürlich Kaffee und Kuchen, kleine Cocktails, Bier und alkoholfreie Getränke nicht fehlen. Und es gab eine Zugabe – das Lied “Capitano” beendete einmal mehr einen unvergesslichen Nachmittag im Haus Stephanus, so hieß es abschließend.
Fotos: Minh Luis/GfdE Gruppe
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