Die Vogelsberger Studentin Josephine Kreutzer erlebte den Nordirak, ehe Krieg ausbrachDie Freundlichkeit einer fremden Kultur
VOGELSBERGKREIS. Aus Kirtorf kommt sie, studiert in Erfurt Kommunikationswissenschaften, und wenn heute die Berichte aus dem Kriegsgebiet in Nordirak in Fernsehen gezeigt werden, dann hat Josephine Kreutzer ganz andere Bilder im Kopf. Keine Explosionswolken, keine Flüchtlinge: Die Studentin besuchte die Region im vergangenen Jahr im Frieden und erlebte ein fremdartige, aber moderne, freundliche und aufstrebende Kultur, wo heute geschossen wird. Die 21-Jährige erinnert sich für Oberhessen-live in einem Bericht:
„Das ist ein Scherz, oder?“ Das ist eine dieser Fragen, die man Menschen stellt, wenn die etwas Waghalsiges vorhaben, zum Beispiel in ein so genanntes Krisengebiet reisen. So musste auch ich immer wieder diese Frage beantworten, als ich im vergangenen Jahr die Entscheidung traf, mit einer Gruppe Studenten für acht Tage in die Autonome Region Kurdistan, besser bekannt unter der Landesbezeichnung Nordirak zu reisen. Ja, richtig: Mit elf Studenten bereisten wir Städte, welche mittlerweile aus den Nachrichten wohlbekannt sein dürften- Erbil, Sulaimaniyya, Duhok- mit dem Unterschied, dass damals noch kein fundamentalistischer Krieg über diesem Land und deren Bevölkerung tobte.
Irak, das war damals für die meisten ganz weit weg, irgendwo hinter dem Mittelmeer in dem Klumpen arabischer Staaten im vorderasiatischen Raum. Fünf Flugstunden und eine Stunde Zeitverschiebung entfernt, liegt ein völlig anderer Kulturraum, über dessen Geschichte wir im Vorlesungssaal zwar schon eine Menge gehört hatten, nun aber selbst kennenlernen wollten.
Zwischen Neugierde und Beklommenheit
Unsere Reise begann damals früh morgens: Um halb sechs verabschiedete ich mich am Erfurter Bahnhof in Richtung Frankfurt Flughafen, zum ersten Mal auf „Rucksackreise“ in ein Land, das nicht gerade als Urlaubsziel bekannt ist. Und ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, dass meine Neugier und gewisse Beklommenheit damals in mir kämpften, denn nur wenige Tage zuvor war ein Attentat in der Hauptstadt der Autonomen Region verübt worden – der Stadt, von der uns damals nur wenige Stunden trennten. Der Gedanke, dass es immerhin das einzige Attentat innerhalb der vergangenen zehn Jahre in dieser Region gewesen war, beruhigte die Nerven dann doch und bekämpfte die Vorurteile, die sich prompt aus dem Unterbewusstsein zurückmeldeten. Schließlich lag auch darin ein Teil des Reizes, nach Kurdistan zu reisen: Vorurteile abzubauen. Sarah Häckel, eine der Teilnehmerinnen, resümiert: „Ich hatte Angst, es meinen Eltern zu erzählen.“ Denn diese seien trotz eines aufgeklärten Weltbildes skeptisch gewesen. So stiegen wir also in eine beachtlich kleine Maschine und landeten fünf Stunden später in Erbil, Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan.
Dort fuhren wir meist von Besuch zu Besuch, führten Gespräche und verglichen insbesondere immer wieder die Gegebenheiten vor Ort und in der Heimat. Eine Lehre, die ich daraus gezogen habe ist folgende: Man kann wohl kaum Vergleiche ziehen. Sicherlich – das Essen ist öliger, der Tee süßer, der Verkehr chaotischer. Aber Maßstäbe ansetzen, das kann man nicht. Man reist in eine Moderne, welche aus westlicher Sicht vielleicht weniger neu, aber bei genauerem Betrachten einfach anders ist. Wenngleich viele politische Prozesse westlich orientiert sind, haben wir in Gesprächen immer wieder erfahren dürfen, dass der unter Sadam Hussein verübte Genozid auch über zehn Jahre später immer noch tief in den Knochen der Gesellschaft steckt – nicht nur die seelischen Folgen, zu deren Bewältigung Betroffene durch Einrichtungen bis heute begleitet werden. Sondern etwa bemerkbar durch die Verweigerung gegenüber der arabischen Sprache. In den Gesprächen an den Universitäten erzählte man uns, dass die Vorlesungen zum Teil dreisprachig stattfinden: Arabisch – Englisch – und Kurdisch.
Beim Eintauchen in eine neue Kultur spricht man gerne von einem Kulturschock. Das Wort trifft die Erfahrungen dieser Zeit wahrscheinlich nicht ganz. Neben vielen Eindrücken des Landes bleibt als Erfahrung, dass es doch auch eine geistig sehr anstrengende Reise war, welche mit ebenso viel Anspannung verbunden war. Jeden Tag aufs Neue zeigten sich diese Spannungen – sei es schon bei der Frage der „richtigen“ Kleidung. „Muss ich aus Respekt meine Haare bedecken?“ oder „Wie kurz darf mein T- Shirt sein?“. Das waren Kleinigkeiten, welche man sich dennoch jeden Tag genau überlegte. Eine weitere Teilnehmerin, Turina Schilling, erinnert sich: „Ich dachte, ich bin vorurteilsfrei…ich wurde eines besseren belehrt: Ich habe diese westliche Sichtweise.“ Bereits nach kurzer Zeit hatten wir begriffen, dass es eigentlich niemandem etwas ausmachte, ob wir nun T-Shirts oder Pullis, mit oder ohne Tuch durch die Straßen oder über den Basar liefen. Wir waren ja auch Deutsche und das war okay.
Häufig auf Deutsch angesprochen
Das war allerdings gleichermaßen der Grund, warum wir in jeder Stadt auffielen und es bei unserem Besuch der jesidischen Siedlung Lalisch sogar schafften, in eine Dokumentation über das damals gerade stattfindende Gedenkfest aufgrenommen zu werden. Wir waren mehr als überrascht, wie oft wir auf Deutsch angesprochen wurden. Dabei lag das nahe: Die meisten Leute, die uns so ansprachen, waren vor Jahren und Jahrzehnten nach Deutschland gezogen, um eine Ausbildung zu machen und kehrten nun entweder dauerhaft zurück oder machten Urlaub. Dabei lief das Gespräch stets auf die Frage hinaus, was wir denn ausgerechnet in der Autonomen Region Kurdistan machen würden.
Umweltthemen und Frauenquote
Nichts desto trotz war es auch eine unglaublich kontroverse Erfahrung: Der Wahrnehmung zufolge befanden wir uns in einem sich auf dem Fortschritt befindenden Land – in den großen Städten boomten die Neubauten. Die Politik ist sehr westlich orientiert: Damals befand die Regierung sich ebenfalls in Sondierungsgesprächen zu einer neuen Koalition. Umweltthemen und Frauenquote bewegten die Diskurse, und da der Irak ein Ethnienstaat ist, existiert ein System, welches diese auch berücksichtigt. Im Gegenzug erinnere mich an ein Gespräch mit einem jungen Kellner. Er ist jesidischer Abstammung und hätte nichts lieber getan, als das Land zu verlassen. Er fragte uns damals, ob wir ihn nicht einfach mitnehmen könnten. Er liebe das Land, aber er könne seine Religion nicht frei ausüben, wie beispielsweise in Deutschland.
Die wohl eindrücklichste Erfahrung war neben dem spirituellen Zentrum der Jesiden, Lalisch, ein Flüchtlingslager, welches wir nur aus der Ferne beobachteten. Denn auch das war ein Aspekt, der nicht in den Geschichtsbüchern steht, sondern damals und heute politische Realität ist: Im Gegensatz zu den Entwicklungen des Landes steht ebenso viel Leid. Wenn die Region auch vor etwa einem Jahr vor dem Hintergrund der bewegten Nachbarstaaten ruhig war, kamen bereits damals Tag für Tag Flüchtlinge aus dem angrenzenden Syrien. Die Landschaft war dort ganz anders: staubig und grau und mit suchenden Blicken, ob der provisorische Heimplatz am Abend noch da ist. Das Lager war mit Beginn der Unruhen von heute auf morgen aus dem Boden gestampft worden und angesichts der kommenden kalten Monate weder vor Wind noch Wetter gefeit.
Rückblickend war es eine Reise mit vielen emotionalen Lagern: Anekdotenhafte Erinnerungen an Autos, an welchen die schützende Transportfolie als Symbol der Neuheit wie am ersten Tag klebt, oder Fußballduelle des HSV auf den Monitoren der Hotellobby bleiben ebenso in Erinnerung wie bewaffnete Sicherheitskräfte an fast jeder Kreuzung.
In jeder Stadt wurden wir mit einer außerordentlichen Gastfreude und Neugier begrüßt und oft mit einem „Danke“ verabschiedet. Ein Danke dafür, dass wir uns das Land einmal selbst angeschaut hatten.
Josephine Kreutzer
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