Gemeinsam mit Seniorinnen und Senioren haben zwei Pfarrerinnen ein Erinnerungsbuch erarbeitetMehr als nur Schnee von gestern
ILBESHAUSEN (ol). Nachfragen, Zuhören, Erinnerungen aufleben lassen und diese einfangen: Die Pfarrerin der Kirchengemeinden Ilbeshausen, Altenschlirf und Schlechtenwegen und die Pfarrerin für Altenseelsorge im Evangelischen Dekanat Vogelsberg haben im vergangenen Jahr 31 Seniorinnen und Senioren nach ihren Erinnerungen gefragt und die persönlichen Geschichten in einem etwa 60-seitigen Buch zusammengefasst.
Vogelsberg, Ende der 1930er Jahre: Anna, die gerade sechs Jahre alt ist, sitzt gemeinsam mit anderen Kindern auf einer Weide und beobachtet eine Kuhherde. Sie müssen die großen Tiere hüten – eine Aufgabe, die normalerweise die Männer übernehmen. Die aber befinden sich an der Front, es herrscht Krieg in Deutschland.
Es ist eine schwere Zeit für die Zurückgebliebenen. Alle müssen zusammenhalten, jeder muss mitanpacken. Auch die Jüngsten. Viel zu essen gibt es nicht, Lebensmittel bekommt man über Essenmarken. Dinge wie Süßigkeiten sind selten und kostbar. Anna und die anderen Kinder haben aber an diesem Tag besonders Lust auf etwas Süßes. Da kommt ihnen eine Idee.
Einer der Jungen läuft schnell nach Hause, holt etwas Zucker aus dem Vorrat seiner Mutter sowie eine alte Schuhcremédose. Wieder auf der Weide angekommen, machen die Kinder ein kleines Feuer. Sie füllen den Zucker in die ausgewaschene Dose und bringen ihn über den Flammen zum Schmelzen. Die klebrige, goldene Masse lassen sie schließlich abkühlen, klopfen sie anschließend in kleine Stücke und teilen sie untereinander auf.
Etwa 80 Jahre ist das jetzt her. „Ob da Erde dabei war, oder ein Blatt, wir haben die selbstgemachten Zuckersteine mit Freude gelutscht. Die waren köstlich“, erinnert sich Anna, die mittlerweile 86 Jahre alt ist. Sie heißt Rahn mit Nachnamen und wohnt in Altenschlirf. Noch häufig kommen der Seniorin Erinnerungen von damals in den Sinn. „Zumindest fällt einem ganz viel wieder ein, wenn man danach gefragt wird“, sagt Rahn. Und genau das war das Ziel eines Projektes der beiden Pfarrerinnen von Heidi Kuhfus-Pithan und Anke Göltenboth.
Nachfragen, Zuhören, Erinnerungen aufleben lassen
Nachfragen, Zuhören, Erinnerungen aufleben lassen und diese einfangen: Die Pfarrerin der Kirchengemeinden Ilbeshausen, Altenschlirf und Schlechtenwegen und die Pfarrerin für Altenseelsorge im Evangelischen Dekanat Vogelsberg haben im vergangenen Jahr 31 Seniorinnen und Senioren nach ihren Erinnerungen gefragt und die persönlichen Geschichten in einem etwa 60-seitigen Buch zusammengefasst.
Ein „schönes Heftchen – schlicht, aber nahe an den Menschen, genau wie das Projekt selbst“, findet Pfarrerin Heidi Kuhfus-Pithan. In erster Linie werden die Heftchen ab sofort an alle Seniorinnen und Senioren in der Kirchengemeinde ab 65 Jahren zum Geburtstag verschenkt, „jeder aber der eins möchte, kann eins gegen eine kleine Spende bekommen“, sagt Kuhfus-Pithan. Das druckfrische Erinnerungsbuch wurde jetzt beim Seniorennachmittag in Ilbeshausen vorgestellt.
Herbstlich geschmückt waren die Tische im Gemeindesaal Ilbeshausen, gut besucht der Seniorennachmittag – mehr Seniorinnen und Senioren als erwartet waren am Donnerstag gekommen, um bei Kaffee und Kuchen endlich in dem Erinnerungsbuch blättern zu können, das viele von ihnen mit ihren persönlichen Erzählungen selbst gefüllt haben. Verschiedene kleine Beiträge lasen Heidi Kuhfus-Pithan und Anke Göltenboth aus dem Buch vor.
Darin ging es beispielsweise um den früheren Zusammenhalt im Dorf in Notsituationen, um das hauseigene Schlachten, um das allwöchentliche Hefekuchenbacken im Backhaus oder um eine jugendliche Schwärmerei, die auf der Kirmes in Hartmannshain begann und schließlich zur Ehe führte, die bis heute noch besteht.
Kuhfus-Pithan und Göltenboth haben die Kirchengemeinde Altenschlirf in den vergangenen Monaten auf dem Weg zur demenzsensiblen Gemeinde begleitet. In diesem Zuge kam auch die Idee für das Erinnerungsbuch. „Wir wollten mit dem Projekt Wertschätzung für die alten Erinnerungen der Seniorinnen und Senioren zeigen und die Menschen in die Mitte nehmen, um der Gefahr, aus der Gesellschaft herauszufallen, entgegenwirken“, erklärt Kuhfus-Pithan.
Ein „gelungenes und bereicherndes Projekt“, das sensibler für das Heute macht, findet Anke Göltenboth. „Beim Zuhören war es wie ein Blick in eine andere, vergangene Welt. Wenn man zum Beispiel Geschichten aus Kriegszeiten hört, sieht man heute die vollen Regale im Supermarkt mit ganz anderen Augen“, sagt die Pfarrerin. „Wir sollten einander einfach zu Lebzeiten fragen. Denn Erinnerungen sind kostbar – und mehr als nur Schnee von gestern.“
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