Nachhal(l)tiger Abend mit starken Biografien und immer noch aktuellenThemen„Der nächste Redner ist eine Dame“ – musikalische Lesung sorgte für Gänsehautmomente und viel Gesprächsstoff
LAUTERBACH (ol). In der Lauterbacher Stadtbücherei fand kürzlich eine musikalische Lesung statt, die sechs Frauen aus der jungen Bundesrepublik würdigte, die maßgeblich politischen Einfluss nahmen. Die Veranstaltung im Rahmen der Frauenwochen verdeutlichte die unerschütterliche Entschlossenheit der Frauen, sich in einer von Männern dominierten politischen Landschaft Gehör zu verschaffen und ist ein Appell für mehr weibliche Präsenz in der heutigen Politik.
Sechs Biografien von sechs Frauen, die in der jungen Bundesrepublik Politik gemacht haben, standen am vergangenen Donnerstag im Mittelpunkt einer Veranstaltung in der Lauterbacher Stadtbücherei. Dazu eingeladen hatten im Rahmen der diesjährigen Frauenwochen im Vogelsberg die Stadtbücherei Lauterbach, der Förderverein der Stadtbücherei Lauterbach und Traudi Schlitt, die die Lesung mitinitiiert hatte, wie es in einer Pressemitteilung der Veranstalterinnen hieß.
Barbara Peters begrüßte die interessierten Gäste in dem schon Tage vorher ausgebuchten Saal. Sie stellte die Idee hinter der Lesung vor und verband die einzelnen Abschnitte mit biografischen Hinweisen. Zu jeder Biografie hatte Sabine Dietrich das passende Lied ausgesucht – damit unterstrich sie die Botschaft und die Leistung der Frauen, die es in der jungen BRD – geprägt von Männern an der Macht – nicht eben leicht mit ihren Ideen und ihrem politischen Engagement hatten. Fünf der sechs vorgestellten Texte finden sich in dem Buch „Der nächste Leser ist eine Dame“ (Ch. Links Verlag, 2024), eine Hommage an die ersten Frauen im Deutschen Bundestag.
Den Beitrag „Denken ist heute überhaupt nicht mehr in Mode“ hatte Barbara Peters außerhalb dieses Buches gefunden: Die Autorin Anna Haag schrieb diesen Satz in ihrem Tagebuch (Reclam Verlag), das mit Aussagen wie, man müsse dafür sorgen, dass „die Wirtschaft in allen Ländern so gut geht, dass nicht Millionen Unzufriedener, Überzähliger, von Arbeit Ausgestoßener die Beute von Demagogen, Phantasten, Geisteskranken, brutal Machtgierigen und Ehrgeizigen werden“ aus dem Jahr 1941 erschreckend aktuell ist.
„Zuweilen habe ich den Eindruck, als ob ein Massenwahnsinn das deutsche Volk ergriffen habe und als ob ein Gehirnschwund in großem Ausmaß um sich fräße. Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode“, heißt es dort. Ilka Kötschau las aus den Aufzeichnungen der SPD-Politikerin und Abgeordneten des ersten baden-württembergischen Landtags, auf deren Eingabe das Recht auf Kriegsdienstverweigerung im Grundgesetzt zurückgeht.
Ursula Pöhlig stellte die FDP-Abgeordnete Dr. Friederike Mulert vor. Die Ärztin hatte während des Zweiten Weltkrieges eine Geburtsklinik unterhalten und war 1948 mit ihrem Mann in den Berliner Westen geflohen. Ihre Anliegen konzentrierten sich auf Frauen- und Familienpolitik. Als die FDP für die Wahl zum zweiten Deutschen Bundestag eine andere Frau aufstellen wollte, blieb sie in der Europa-Union aktiv. Auf die Idee, dass man zwei Frauen aufstellen könne, waren die Liberalen nicht gekommen.
Petra Scheuer las aus der Biografie der SPD-Abgeordneten Jeanette Wolf. Hier wurde schmerzhaft deutlich, wie sehr sie, die als Jüdin fast ihre komplette Familie durch die Morde der Nazis verloren hatte, für Versöhnung kämpfte, aber auch für Anerkennung der Schuld, für Entschädigungszahlungen – und das im Angesicht von Altnazis, die wieder in der Regierung saßen.
Die CDU-Abgeordnete Dr. Luise Rehling wird in dem Buch als „Die erste Europäerin“ beschrieben. Die promovierte Lehrerin und Pfarrersfrau setzte sich für die Belange von Frauen und Familien als auch für Aussöhnung mit Europa ein. Auf ihr Engagement ist die Einführung des Mutterschutzes zurückzuführen. Außerdem war sie Wegbereiterin des Elysée-Vertrages, des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages. Aus ihrer Biografie las Ute Kirst.
Stephanie Kötschau stellte die CSU-Abgeordnete Dr. Maria Probst vor. Sie wurde erst Politikerin, als ihr Mann gefallen war. Selbst nachdem sie es als solche zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hatte (Ihr wird das „teuerste Mittagessen der Bundesrepublik zugeschrieben. Hier hatte sie bis zu 600 weitere Millionen für die Versorgung von Kriegsversehrten ausgehandelt), sagte sie, dass sie nie Politikerin geworden wäre, wenn ihr Mann aus dem Krieg zurückgekehrt wäre. Der erste Platz der Frau sei in der Familie – aus diesem Grund setzte sie sich auch besonders für deren Belange ein: Sie forderte u.a. die rechtliche Gleichstellung unehelicher Kinder, von denen es nach dem Krieg doppelt so viele gab wie zuvor.
Den Reigen schloss Traudi Schlitt mit der Biografie der KPD-Abgeordneten Grete Thiele. Hier wurde besonders deutlich, wie sehr Erlebnisse in der Kindheit – ein Leben in Armut und einer feindlichen Arbeitswelt – das politische Wirken prägen. Nach Erfahrungen in den Gefängnissen der Nazis wollte Thiele am Wiederaufbau einer besseren Republik mitarbeiten. Dass damit die Gleichberechtigung der Frau automatisch einhergehe, war für sie selbstverständlich. Ihr politisches Wirken wurde schwierig, als die KPD in der BRD verboten wurde, und hatte spätestens mit der deutschen Wiedervereinigung ein Ende.
Die Gestaltung des Abends, die Auswahl der Lieder und die Vortragsweise machten deutlich, wie unterschiedlich die weiblichen Abgeordneten des ersten deutschen Bundestages waren und welche Themen sie dennoch einigten: Nach zwei fürchterlichen Weltkriegen und zwölf Jahren eines totalitärem Nazi-Regimes waren dies: Nie wieder Faschismus, Nie wieder Krieg! Die Inhalte wie die Musik hallen nach. Die Gäste hörten von Diskriminierung und Erfolgen, von Niederlagen und Errungenschaften, die bis heute wirken. Sie erkannten einen weiblichen Blick auf die Politik, der nach wie vor zu fehlen scheint. Im ersten deutschen Bundestag waren nur neun Prozent Frauen vertreten. 75 Jahre später sind es 32,4 Prozent. Es sollten fünfzig sein.
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