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Vor 50 Jahren wurde Alsfeld Europäische Modellstadt für DenkmalschutzWie Europa die verfallende Altstadt für die Zukunft rettete

ALSFELD – Ist das vorstellbar: ein Alsfeld ohne Fachwerkaltstadt? Oder ein Marktplatz mit Betonhäusern, ein Rathaus zwischen Glasfassaden? Wäre es nach Stadtplanern der 70er Jahre gegangen, hätte die Altstadt so aussehen können. Aber es gab auch Menschen, die die Historie bewahren wollten – und vor 50 Jahren trat ein, was bis heute prägt: Alsfeld wurde europäische Modellstadt für Denkmalschutz. Michael Rudolf hat nachgeforscht und erinnert in diesem Beitrag, wie es damals zu der Entscheidung kam.

2025 ist ein Jahr, in welchem zahlreiche Jubiläen, Erinnerungen und Gedenken an Persönlichkeiten und Ereignisse allgemein und vor Ort begangen werden können. Eines dieser denkwürdigen Anlässe ist herausragend und in der Erinnerungskultur präsent, das „europäische Denkmalschutzjahr 1975“. Alsfeld rückte vor fünfzig Jahren mit diesem in das Zentrum Europas, was Anlass genug sein dürfte, an das einstige Ereignis zu erinnern.

Denkmalschutz und Altstadtsanierung

Aus der Vielzahl der allgemeinen und lokalen Publikationen, die vor allem seit 1975 erschienen sind, ist zu erfahren, dass Alsfeld vor fünfzig Jahren weit über die Grenzen des Kreisgebiets hinaus bekannt geworden ist, als die Stadt an der Schwalm wegen ihrer vorbildlichen Leistungen auf dem Gebiet des Denkmalschutzes und der Altstadtsanierung als Modellfall für das Land Hessen und die Bundesrepublik Deutschland anerkannt wurde und entsprechende Förderungen erhielt.

Marodes Fachwerk im ehemaligen Scheunenviertel, dem heutigen Schnepfenhain. Foto: Sammlung Stoll/Zöckler, zur Veröffentlichung genehmigt von Thomas Zöckler

Bereits 1959 in einem Förderprogramm

Die Stadt mit ihren repräsentativen Fachwerkbauten wurde bereits 1959 in das Förderprogramm für zentrale Orte aufgenommen und vier Jahre später Bundesausbaugebiet. 1962 wurden in Alsfeld bewusst die ersten städtebaulichen Bestandsaufnahmen des existenten Altstadtkerns durchgeführt. Nachdem 1964, so die zeitgenössische Literatur, der erste Sanierungsauftrag erfolgt war, wurde dieser zwei Jahre später auf die gesamte Altstadt erweitert. Schließlich erhielt Alsfeld 1966 im Bundeswettbewerb „Bürger, es geht um Deine Gemeinde“ für die herausragende Bauleitplanung und die kommunalen Vorsorgemaßnahmen eine Goldplakette.

Das Pilotprogramm des Europarates

Da die vorbildliche Sanierung und die Erhaltung der baulichen Substanz im Altstadtgebiet im Sinne des Denkmalschutzes unablässig vorangetrieben worden sind, nimmt es nicht wunder, dass Alsfeld vom „Comitee des Monuments et Sites“ des Europarates ausgewählt und anlässlich der Eröffnungskonferenz zum „Europäischen Jahr für Denkmalpflege und Heimatschutz“ vom 4. bis zum 7. Juli 1973 in Zürich in das Pilotprogramm des Europarates für die Erhaltung des kulturellen Erbes aufgenommen wurde. Alsfeld gehörte damit zu den fünfzig Orten aus siebzehn Ländern zwischen Mittel- und Nordmeer, die mit Hilfe einer Kampagne für den Denkmalschutz unter dem Motto „Eine Zukunft für unsere Vergangenheit“ als ausgewählte Beispiele der europäischen Kultur für künftige Genrationen gerettet werden sollten und auf die im Denkmalschutzjahr 1975 aufmerksam gemacht wurde.

Damals: die Rückseite des verfallende Minnigerode-Hauses. Foto: Sammlung Stoll/Zöckler, zur Veröffentlichung genehmigt von Thomas Zöckler

Die Intention des Denkmalschutzjahres

Heinz Rieger hob in einem Artikel in der Alsfelder Oberhessischen Zeitung vor fünfzig Jahren die Intention des Denkmalschutzjahres hervor. Das Motto, das der Europarat in Straßburg ausgegeben habe, verweise darauf, dass Versäumtes nachgeholt und eine „Zukunft für das Vergangene“ geschaffen werden müsse, denn Europas Geschichte von Jahrtausenden drohe im „Steinfraß der Domfassaden, in der Bodenspekulation, in Torheiten und Maßlosigkeiten von Stadtplanern und im Egoismus der Erbauer so mancher Glas- und Betonburg“ unterzugehen. Die Erhaltung der historischen Substanz, die sich die Initiatoren des Denkmalschutzjahres 1975 auf ihr Banner geschrieben haben, sei wichtiger denn je, wobei nicht das einzelne Objekt im Mittelpunkt des Interesses stehen würde, sondern vielmehr das Ensemble gemeint sei. Die Ziele des europäischen Denkmalschutzes dürften für die ausgewählten Modellstädte im Grunde nichts von ihrer einstigen Aktualität verloren haben.

Es drohte der allmähliche Untergang

So war und ist doch zu fragen, was ein alter Marktplatz mit seinen Fachwerkhäusern noch wert ist, wenn ein proportionsloses Betongebilde seinen Maßstab und seinen Charakter vernichtet. Es ist kritisch zu bemerken, ob nicht schon der Verlust eines einzelnen Fachwerkhauses das Antlitz einer historisch gewachsenen Stadt und überdies die Geschlossenheit sowie die Ästhetik des Fachwerkensembles zerstört. Und drittens ist zu bewahrheiten, dass sich eine Stadt allmählich dem Untergang preisgibt, die sich einst als würdiger Hüter des kulturellen Erbes auszeichnete, wenn sie es zulässt, dass auch nur eines ihrer Glieder vom Körper getrennt oder abgerissen wird.

Es ging vor fünfzig Jahren und es geht auch heute noch um einen Denkmalschutz für gewachsene und erhaltungswürdige Städte und Stadtteile, will sagen, um etwas, das unverwechselbar im Städtebau Europas und das elementar für die Geschichte der Menschheit des Kontinents ist.

Alsfeld: eines von fünf auserkorenen Beispielen

1975 verstanden es die Initiatoren des Denkmalschutzjahres mit zahlreichen Veranstaltungen und der Bildung eigener Nationalkomitees, ein Bewusstsein für die Bewahrung der historischen Bauwerke in der Öffentlichkeit zu schaffen und zu fördern. Unter den fünfzig repräsentativen Orten wurden fünf Modellstädte für den kommunalen Denkmalschutz auserkoren, unter denen sich Berlin als Beispiel für eine Großstadt des 19. Jahrhunderts, Xanten als Exempel für eine Stadtsanierung bei der Neuordnung eines industriellen Ballungsraumes, Trier als Objekt einer mittelalterlichen Großstadt, Rothenburg o. d. Tauber als Beispiel für einen Fremdenverkehrsort und Alsfeld mit dem Attribut einer charakteristischen mittelalterlichen Kleinstadt befand. Diese Städte zeichneten sich durch möglichst geschlossene historische Viertel und Ortskerne aus, in denen die Lebensfähigkeit der Ensembles sichergestellt war.

Alsfeld als Modellstadt

Mit unterschiedlichem Eifer waren die Stadtväter und -mütter der fünf Modellstädte in das „Unternehmen Denkmalschutzjahr“ gezogen, das im Januar 1975 in Bonn seinen offiziellen Auftakt hatte. Alsfeld, die hessische Kleinstadt mit dem geschlossenen Fachwerkkern, eröffnete – nach Einweihung seiner Fußgängerzone bei Freibier und Ochs am Spieß 1974 – in den alten Patrizierhäusern in der Rittergasse, dem Neurath- und Minnigerode-Haus, 1977 das Museum mit der Präsentation von Stadt- und Heimatgeschichte, das im Denkmalschutzjahr 1975 mit vielerlei Unterstützung noch im Werden war.

Ausstellungen, Vorträge, Diskussionen, Führungen und Dokumentationen wurden 1975 vorbereitet und dem interessierten Publikum aus Stadt, Land und Orten Europas offeriert.

Eine Delegation reiste nach Bonn 

Eine Delegation Alsfelder Stadträte unter der Leitung des damaligen Bürgermeisters Hans-Ulrich Lipphardt nahm an der am 20. Januar 1975 in Bonn stattfindenden Eröffnungsveranstaltung unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Walter Scheel teil. Besondere Anerkennung wurde der Stadt zuteil, als der Bundespräsident den Alsfelder Ausstellungsstand besichtigte, das Staatsoberhaupt wichtige Informationen von Bürgermeister Lipphardt erhielt und sich lobend über die Alsfelder Initiative für den Denkmalschutz äußerte.

 „Eine Zukunft für unsere Vergangenheit“

Nicht ohne Stolz wies die Post in jenen Tagen auf die Briefmarken, die Briefumschläge und die Postkarten hin, die als Sonderdrucke den Status Alsfelds als „Europäische Modellstadt im Denkmalschutzjahr 1975“ unterstrichen, war es doch im Großen und Ganzen gelungen, seit 1963 das historische Gefüge zu erhalten. Dass dennoch Einbrüche bei diesem Streben zu verzeichnen sind, zeigen Abbruch und Schwierigkeiten bei der Erhaltung der Fachwerksubstanz gerade in Alsfelds jüngster Vergangenheit. Insofern bietet die Erinnerung an das fünfzigjährige Jubiläum die Chance, das Bewusstsein aller für die Erhaltung einer in der Geschichte ruhenden, ästhetischen, liebens- und schützenswerten Altstadt für die Gegenwart zu schärfen und die Bedeutung des historischen Gutes für Kultur, Tourismus und Wirtschaft auch für das Kommende erinnernd hervorzuheben.

Man darf gespannt sein, wie Stadt, Institutionen und Vereine das eindeutige Jubiläum zur fünfzigsten Wiederkehr des europäischen Denkmalschutzjahres 2025 in Alsfeld feiern werden, damit der Leitsatz des Denkmalschutzjahres 1975 – „Eine Zukunft für unsere Vergangenheit“ – unvergänglich bleiben wird.

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