Die vergessene Geschichte der Familie Wertheim in AngenrodNeue Dokumente werfen ein Licht auf die jüdische Vergangenheit einer Angenröder Gastwirtsfamilie Wertheim
ANGENROD (ol). Durch die Zusendung neuer Dokumente von Andres Buchwald wird die Geschichte der Familie Wertheim aus Angenrod weiter aufgearbeitet. Die Familie entkam 1937 dem nationalsozialistischen Terror und fand Zuflucht in Buenos Aires. Lokalhistoriker und Angenröder Dr. Ingfried Stahl berichtet.
Geschichtsaufarbeitung ist ein kontinuierlicher Prozess und findet eigentlich nie einen Abschluss. Immer wieder kommen neue Dokumente hinzu und bereichern und ergänzen somit die bislang erfolgten Publikationen: So auch aktuell mit Blick auf die jüdische Geschichte Angenrods durch Zusendung von Text- und Bilddokumenten der Familie um den ehemaligen Angenröder Gastwirt Joseph Wertheim (1862 bis 1914) („Gasthaus Wertheim“), berichtet Ortshistoriker Dr. Ingfried Stahl in einer Pressemitteilung.
Andres Buchwald (65), gebürtiger Argentinier, dessen Urgroßeltern Joseph Wertheim und Rosa Wertheim geborene Karlsruher (1869 bis 1949) waren, und der jetzt in Stuttgart-Filderstadt wohnt, hatte sich Ende Juli 2024 telefonisch mit Angenrods Lokalhistoriker Ingfried Stahl in Verbindung gesetzt. Im Verlauf der sich anschließenden regen E-Mail-Kommunikation mit Buchwald hatte der Ortschronist diesem auch erste Fotos zu seiner Vorfahren-Familie zugesandt. Andres Buchwald selbst schickte dann zahlreiche bislang unbekannte Bilder und Dokumente, zumeist sogar von seiner Familie in Buenos Aires zusammengestellt, auf den elektronischen Weg nach Angenrod. „Ich bin an der Geschichte meiner Familie sehr interessiert und bin in meiner Sache auf Ihr Buch „Wie Angenrod geworden ist“ gekommen.“ Er würde es sehr begrüßen, wenn er ein Exemplar davon kaufen könne und „logischerweise sollten noch andere Informationen bezüglich der Gastwirtschaft und meiner Familie vorliegen, würde ich mich auch freuen diese zu erwerben.“ Die Angenrod-Dokumentation war Anfang 2023 von Ingfried Stahl gemeinsam mit dem Ortsbeirat und der Vereinsgemeinschaft Angenrod publiziert worden. Die Auflage des Buches ist inzwischen nahezu vergriffen.
Das ausgeprägt-traditionelle Familien- und Vorfahren-Bewusstsein israelitischer Konfessionsangehöriger spiegelte sich dann auch jetzt in einer Zusatzbemerkung Andres Buchwalds wider. Mit den Worten „Es ist für unsere Familie sehr wichtig, das Andenken an unsere Vorfahren in Ehre zu halten. Wir, meine Mutter Alba Buchwald geborene Wertheim und meine Schwester Monica Buchwald, sind sehr emotionell davon betroffen“, unterstrich der argentinische Joseph Wertheim-Nachfahre Angenröder Vorfahren die große Wertschätzung, die jüdische Menschen ihrer Ahnen-Linie zumessen: Ein Faktum, das auch in der Thora, im engsten Sinn der fünf Bücher Mose, im mittleren Sinn der ganzen jüdischen Bibel – des Alten Testaments der Christen -, immer wieder durch dezidierte Angabe von Stammbäumen und der Herkunft deutlich werde.
Im Rahmen des E-Mail-Austausches wurde dann der spätere Lebensweg der Familie von Joseph Wertheim aufgeklärt. Von den vier in Angenrod geborenen Kindern Joseph und Rosa Wertheims geborene Karlsruher, geboren in Ittlingen (Landkreis Heilbronn) in Baden-Württemberg, den Töchtern Mathilde (geboren 1895) und Irma (1897 bis 1949) sowie den Söhnen Max (1899 bis 1971) mit Ehefrau Klara Hilpert (Heirat in London) und Herbert (1906 bis 1989) mit Ehefrau Lieselotte geborene Blum gelang ihnen allen Mitte 1937 mit dem Schiff über Montevideo die Emigration nach Buenos Aires, heißt es. Sie retteten damit ihr Leben.
Max Wertheim, schrieb Andres Buchwald, sei sein Großvater, dessen einzige Tochter Alba Buchwald geborene Wertheim seine Mutter. Max Wertheim war zu seinen noch Lebzeiten in Angenrod, wie mehrere Inserate in der OZ belegen, ab 1920 als Handelsmann für unter anderem landwirtschaftliche Produkte wie Wicken sowie Erbsen zur Saat, Heu und Stroh sowie auch Düngemittel jeglicher Art tätig. In der NS-Zeit erlosch diese Aktivität, hieß es weiter.
Tochter Mathilde Wertheim, später mit Max Gailinger (geboren 1882) in Stuttgart verheiratet, fiel dagegen dem NS-Rassenwahn zum Opfer. Zusammen mit ihrem Ehemann und Sohn Julius (geboren 1929 in Stuttgart) wurden sie 1942 nach Izbica (Polen) deportiert und dort ermordet. In der Schloßstraße 54 in Stuttgart erinnern heute vor deren Haus platzierte Stolpersteine an ihre einstigen Bewohner jüdischer Konfessionszugehörigkeit.
Das Gasthaus Wertheim, das samt zugehörigen circa 11 Morgen Äcker und Wiesen von Joseph Wertheim Ende 1895 von dem verstorbenen Vorläufer-Gastwirt Karl Zulauf („Zulauf´sche Wirtschaft“) im Rahmen der dritten öffentlichen Versteigerung (Großherzoglicher Bürgermeister Heinrich Obermann) erworben wurde, war seinerzeit eine Vorzeigewirtschaft und Vereinslokal Angenröder Vereine, so Stahl.
Das Wertheim´sche Gasthaus – es ist auch auf historischen Angenröder Grußkarten abgebildet – dessen Haupteingang noch giebelseitig an der Straße gelegen war, verfügte auch über einen stattlichen Versammlungssaal. Es sollte neben der alteingesessenen Angenröder Gastwirtschaft Bambey über drei Jahrzehnte lang ein vor allem von den ansässigen Vereinen gut frequentiertes Vereinslokal bleiben: so in Kontinuität der Vorgängerwirtschaft vom 1875 gegründeten Kriegerverein, danach und somit noch vor dem Ersten Weltkrieg vom Kegelklub „Fall um“, gegründet 1911, und vom Gesangverein „Harmonie“ (gegründet 1911).
Ab Mitte der Zwanziger Jahre folgten dann noch der Radfahrerclub „Radlerlust“ (gegründet am 25. Juli 1925) und auch der Sportverein (gegründet 1927). Wie die erste Kegel-Veranstaltung in Angenrod, laut OZ-Inserat bereits 1906, schlussfolgern lässt, muss Joseph Wertheim nach Übernahme der Gastwirtschaft in unternehmerisch engagiertem Stil schon bald den Bau einer überdachten Holzbohlen-Kegelbahn parallel zur östlichen Längsseite des Wirtschafts-Hauptgebäudes auf den Weg gebracht haben.
Wie auch Zeitzeugen tradieren, wurde dieses Novum in Angenrod, nämlich eine Kegelbahn, von Kegelfreunden ausgiebig genutzt. Vom in den Folgejahren schließlich gegründeten ersten Angenröder Kegelverein („Fall um“) ist zum ersten Mal in einer Zeitungsannonce aus dem Jahr 1911 zu lesen. Auch in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wartete die Anhängerschaft des Angenröder Kegelsports mit traditionellen Preiskegel-Veranstaltungen, gepaart mit Tanz und geselligem Beisammensein, auf. Wie in einem OZ-Inserat vom 04. November 1927 dokumentiert, hatte sich der Verein dann aber einen neuen Namen zugelegt: „Kegelclub Gut Holz“.
Mitglieder im Kegelverein beziehungsweise -club waren, Indiz der Integration der jüdischen Bevölkerung Angenrods in das allgemeine Dorfgeschehen, auch einige Angenröder Israeliten. Joseph Wertheim gehörte auch dem ehemaligen „Gastwirte-Verein Alsfeld und Umgebung“ an. Er war dessen Mitgründer und seine Gattin Rosa Wertheim konnte anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Vereins im April 1929 posthum für ihren Gatten die Silberne Gründer-Medaille entgegennehmen.
Witwe Rosa Wertheim hatte nach dem Versterben ihres Mannes noch jahrelang bis in die Mitte der 1930er-Jahre die Gastwirtschaft weitergeführt, was auch mit diversen Zeitungsinseraten in der „Oberhessischen Zeitung“ dokumentiert werden konnte. Das großräumige Gebäudeareal um die Gastwirtschaft Wertheim an der heutigen B 62 wechselte dann im Zuge der sogenannten Arisierung, des Zwangsverkaufs in der NS-Zeit, an einen nichtjüdischen Angenröder Besitzer über. Betrieb eines Gasthauses oder einer Gastwirtschaft erfolgte danach nicht mehr, heißt es.
An Joseph Wertheim und seine Angenröder Familie erinnern heute noch dessen gut erhaltener Grabstein auf dem jüdischen Gemeinschaftsfriedhof Angenrods, zahlreiche Inserate und Berichte in der OZ bis Mitte der 1930er Jahre und auch verschiedene in Angenrod gesammelte und archivierte Bilddokumente. Wertvolle Überlieferungen trugen auch die Angenröder Zeitzeugen bei.
Andres Buchwald selbst ist beruflich derzeit „Global Category Manager Travel and Fleet“ bei DEKRA, dem Deutschen Kraftfahrzeug-Überwachungs-Verein, einer der weltweit führenden Expertenorganisationen. Rund 44.000 Mitarbeiter sind in mehr als 50 Ländern auf allen fünf Kontinenten im Einsatz. Ein Besuch Angenrods von Andres Buchwald und seiner Frau auf den Spuren ihrer Angenröder Ahnen und der jüdischen Gemeinde Angenrods sei aber erst für nächstes Jahr angedacht, zumal die Mobilität im Stadtteil derzeit durch Bauarbeiten an der Brücke und im Ortsbereich noch stark eingeschränkt ist, so Stahl abschließend.
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