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„Ich bin der Moment“Poetry Slam der Lichtermeer-Stiftung erzeugt Gänsehaut bei Gästen im Lichtspielhaus

ALSFELD/LAUTERBACH (ol). Die Lichtermeer-Stiftung hat kürzlich einen bewegenden Poetry Slam rund um die Themen Leben, Tod und Trauer im Lichtspielhaus in Lauterbach veranstaltet. Sieben Künstler:innen präsentierten vor mehr als 125 Gästen ihre poetischen und emotionalen Texte über persönliche Geschichten und Erfahrungen.

Er war einer der ersten Poetry Slams in Lauterbach und er sorgte gleich für ein volles Lichtspielhaus. Dabei ist das Thema „Leben, Sterben, Tod und Trauer“ nicht eben dazu angetan, die Häuser zu füllen. Den Mut, genau damit in die Öffentlichkeit zu gehen, haben Organisationen wie die Hospizvereine in Lauterbach und Alsfeld sowie die Lichtermeerstiftung. Gemeinsam präsentierten sie laut einer Pressemitteilung den mehr als 125 Gästen sieben Poetinnen und Poeten sowie eine gut aufgelegte Moderatorin.

Tanja Bohn, Ratsvorsitzende der Stiftung, zeigte sich in ihrer Begrüßung überwältigt von dem Zuspruch, den ihre Veranstaltung fand. Sie dankte all ihren Mitstreiterinnen sowie dem Kino-Team und der Moderatorin Stella Jantosca, eine ausgewiesene Poetry Slam-Expertin, die ein bemerkenswertes Line-up zusammengestellt hatte. Jantosca erklärte zunächst die Regeln einer „Dichterschlacht“: Die Künstlerinnen und Künstler tragen eigene Texte vor, dürfen sich nicht verkleiden und keine Requisiten verwenden. Das Publikum zollt ihnen allen Respekt, auch wenn der Beitrag nicht gefällt, heißt es. Da aus der Schlacht ein Sieger hervorgehen muss, teilt das Publikum durch Klatschen mit, wie es den Beitrag fand. Eine Jury aus Freiwilligen unter den Gästen versucht dann, dieses Klatschen in Punktzahlen umzusetzen und somit am Ende ein Ranking darzustellen.

Wie immer im Lichtspielhaus hatte Inhaberin Steffi Dörr zunächst einen passenden Kurzfilm ausgewählt, der das Thema Sterben auf ganz eigenwillige Art thematisierte, wie es hieß. Außerhalb des Wettbewerbs trat zunächst Lioba Böttinger auf. Sie ist aktive Hospizhelferin im Hospizdienst Vogelsberg und warb mit einer stimmigen Darbietung um die Ehrenamtlichen von Morgen, was ihr viel Applaus einbrachte.

Und dann begann der Slam: Als Lokalmatadorin trat die Lauterbacherin Lea Weber als Erste ans Mikrofon. Getreu ihrer Idee „Wer Sprichwörter kennt, kann kein schlechter Mensch sein“, hatte sie einen Text verfasst, der aus einer Vielzahl an Sprichwörtern bestand – Sprichwörter, die mitunter einfach nicht zutreffen und in ihrem Fall der übriggebliebene Fundus eines Menschen sind, der ansonsten nichts Neues mehr aufnehmen und denken kann und sein eigenes Leben nicht mehr versteht. Ein intelligentes, sprachlich exzellentes und inhaltlich berührendes Werk war es, das die Poetin präsentierte und das in der Wertung der fünf Juroren einmal den Höchstwert Zehn erreichte, so hieß es in der Mitteilung.

Ebenfalls um die langsam schwindende Wahrnehmung drehte sich der Beitrag, den Annika Hofmann aus Hanau vortrug: „Die Frau am offenen Fenster“, über deren Leben sie als vermeintliche Zuschauerin fantasiert, wird sich am Ende als ihre Oma herausstellen, die langsam dement wird, täglich dieselben Fragen stellt, bis sie eines Tages nicht mehr am Fenster steht. Ganz anders von der Tonart und vom Stil, und doch mitreißend und bewegend sei auch dieser Beitrag gewesen, für den es ebenfalls eine Zehn von einer der fünf Jurorinnen gab.

Eine Trauerrede für eine Poetin brachte danach Artem Zolotarov aus Mainz dar. Er präsentierte einen Text, der voller Bilder und Metaphern war – jede einzelne voller Wertschätzung für die verlorene Frau, die „mutig war und nicht verzagte.“ „Akzeptanz“ hatte der Künstler seinen Beitrag genannt, denn die Erkenntnis aus allem Leid könne sein: „Oft hat alles seinen Grund, und Akzeptanz macht die Welt ein kleines bisschen gesund.“ Das Publikum zeigte sich beeindruckt und lauschte dem Vortrag gebannt und mucksmäuschenstill.

Eine Dystopie, den bevorstehenden Untergang der Welt, zeichnete der Poet Emm Weyrauch aus Darmstadt. Die Fundamente der Erde seien ins Wanken gekommen, die Menschen schauten weg, wollten das Leid nicht sehen. Doch dann: Ein Lichtblick. Menschen, die lächeln, Glücksmomente, Freundschaften. So wurde aus dem düsteren Anfang ein Gedicht über menschliche Errungenschaften, die die Welt besser machen könnten. Auch Emm Weyrauch erhielt gute Wertungen und viel Applaus.

Mit der Limburgerin Kaddy Kupfer war die spätere Siegerin des Slams als fünfte Künstlerin am Start. In einer irren Aneinanderreihung von Worten gelang ihr die genaue Darstellung eines Unfalls, einer Krankheit, eines quälenden Abschieds auf der Palliativstation. Die Gefühle der Angehörigen konnte sie genauso fassen wie die Situation an sich, hieß es. Und wie das Ende, an dem vielleicht „alles gut“ wurde. Ein Gänsehautmoment im Lichtspielhaus.

Ebenfalls aus Darmstadt angereist war Jessica Davis. Sie erzählte den Gästen von ihrem Freund Chris, der sie eines Sonntagsmorgens in einem ungünstigen Moment störte, als sie keine Lust auf Besuch hatte. Als sie eigentlich im Bett liegen bleiben wollte und sich an der ungeputzten Wohnung störte. Nächstes Mal würde sie sich vorbereiten auf seinen Besuch, hatte sie sich vorgenommen, doch ein nächstes Mal gab es nicht. Eine Woche später war Christ tot und der Erzählerin sei bewusst geworden, wie wichtig Momente sind, wie sehr man sich Zeit für Freunde und Familie nehmen müsse, wenn sie einen brauchten: „Man lebt nur einmal und das ist jetzt.“ Davis sei es gelungen gewesen, mit ihrer Geschichte einen enormen Spannungsbogen zu schlagen von einer banalen Situation hin zu einer einschneidenden Erkenntnis. Damit schaffte sie es später gemeinsam mit Kaddy Kupfer ins Finale und wurde Zweite der Dichterschlacht.

Doch zuvor nahm der Künstler Lenny Felling aus Mainz die Gäste mit zu einer besonderen – angeblich tatsächlich so stattgefunden habenden – Beerdigung, auf der er selbst sich zur Freude seiner Familie und der anderen Gäste als Whisky- und sonstiger Verkäufer hervortat. Die Verstorbene eine „Kackstelze“, die Oma, am Ende sturzbetrunken. Auch so könne man auf den Tod schauen – eine Erkenntnis, die den Gästen im Lichtspielhaus sehr gefallen habe. Sie lachten herzlich nach den schweren Themen und zollten dem Poeten wie den anderen vor ihm viel Applaus: Respektvoll, herzlich und ernstgemeint.

Das Finale bestritten also Kaddy Kupfer und Jessica Davis. Kaddy Kupfer hielt eine mitreißende Hymne auf den Moment: Ihr Gedicht war ein Appell an das echte Leben jenseits der Handys und endlosen Fotos, eine Lobrede auf die großen Gefühle. Dafür hatte die Poetin die schönsten Worte gefunden und ließ den Moment sprechen. „Ich bin der Moment, den du verpasst.“ Jessica Davis nahm ihrer Zuhörer mit zu den Sternen, die auf der Erde noch leuchten, wenn sie längst verglüht sind. Von ihnen könne man lernen, dass vieles, was uns wichtig ist, es nicht ist. Dass es nicht darauf ankomme, alles richtig zu machen: „Ein Stern versucht nur zu sein. Sonst nichts. Und sein Licht strahlt noch nach seinem Tod.“

Mit dem Line-up war es Stella Jantosca gelungen, ganz unterschiedliche Poeten und Poetinnen auf die Bühne zu bringen: Sie hatten ihre Themen ganz individuell geschrieben, trugen sie als Texte oder Gedichte vor, auswendig oder lesend. Sie fanden Worte, die das Publikum gerne mit nach Hause nahm und ihre Gedanken klangen noch lange nach, hieß es. Die Gäste waren mehr als angetan von diesem gehaltvollen Abend, der ein unbeliebtes Thema in ein anderes, ein schönes, Licht rückte. Und für die vielen Erstbesucher eines Poetry Slams werde es sicher nicht das letzte Mal gewesen sein.

Fotos: T. Schlitt

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