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Nancy Freund Heller, Tochter einer Zeitzeugin, zu Besuch an der Max-Eyth-Schule AlsfeldEine Geschichtsstunde der besonderen Art

ALSFELD (ol). „Bevor wir über tote Juden sprechen, sollten wir über lebende Juden sprechen“, so begann die New Yorkerin Nancy Freund Heller ihr Gespräch mit drei Gruppen von insgesamt 75 Schülern der Jahrgangsstufen zwölf der Max-Eyth-Schule und der Albert-Schweitzer-Schule in Alsfeld.

Als Nachfahrin einer alteingesessenen deutsch-jüdischen Familie, die vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten mehr als 300 Jahre lang in Alsfeld und Umgebung lebte, setzt Nancy Freund Heller sich seit über 20 Jahren intensiv mit ihrer Familiengeschichte auseinander, schreibt die Max-Eyth Schule in ihrer Pressemeldung.

Als Botschafterin für Freundschaft und Versöhnung möchte sie diese Geschichte für junge Menschen in der Heimat ihrer Familie lebendig werden lassen und tut dies mit viel Leidenschaft und Empathie. Anfang diesen Jahres nahm sie anlässlich ihrer Deutschlandreise im Mai mit der MES Alsfeld Kontakt auf und so bat sich den Schülern am 11. Mai die einmalige Gelegenheit, einen Aspekt des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte aus erster Hand zu erfahren.

„Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann tut’s nochmal so gut“, diese und andere Hetzlieder und Parolen skandierten seit dem Regierungsantritt der Nationalsozialisten viele Deutsche in Alsfeld – dies und eine Warnung eines Mitarbeiters bewogen den Alsfelder Kleidungsfabrikanten Adolf Steinberger in einer Nacht- und Nebelaktion nach nur acht Monaten nationalsozialistischer Herrschaft mitsamt seiner Familie der geliebten Heimat den Rücken zu kehren.

Alle Fotos: Nancy Freund Heller

Seinen Töchtern, darunter die damals 13-jährige Irmgard, sagte er bei der Abreise aus dem Haus in der Alicestraße: „Schaut euch noch einmal um, denn ihr werdet Alsfeld nie wiedersehen“. Obwohl sich dies für Irmgard nicht bewahrheiten sollte, so verlor sie doch ihre Heimat.

Zunächst wanderte die Familie nach Haifa in Palästina aus, damals noch unter britischer Kontrolle und ein Entwicklungsland, eine ganz andere Welt als die vertraute deutsche Heimat. Sich dort eine Existenz aufzubauen gestaltete sich äußerst schwierig. Unter größtem Aufwand schaffte es Herr Steinberger, alle jüdischen Mitarbeiter der Alsfelder Kleiderfabrik aus Deutschland herauszuholen.

Doch nicht alle Familienmitglieder schafften die rechtzeitige Flucht vor dem NS-Terror. Therese Strauss, geborene Steinberger und ihr Mann Markus Strauss wurden, mit unzähligen anderen, ins Konzentrationslager Lodz deportiert und ermordet. Vor ihrem Haus in der Grünberger Straße wurden zum Gedenken Stolpersteine verlegt. Irmgard Steinberger wanderte über einen Umweg über die Schweiz, wo sie Fotografie studierte, letztendlich in die USA aus – dort wurde aus Irmgard, die sich in der jüdischen Schule in Haifa Yehudit nannte, Judith, oder kurz Judy.

Nancy und Jeffrey

Obwohl Deutsch zu sprechen im New York der Kriegs- und Nachkriegszeit verpönt war, wuchsen Judiths Kinder „in einem typisch deutschen Haushalt“ auf, wie ihre Tochter Nancy betont – „das Essen, die Einrichtung, alles war deutsch“. Judith blieb ihrer Alsfelder Heimat stets verbunden. Dies ist keine Selbstverständlichkeit, da das Trauma von Entrechtung, Verfolgung und Ermordung ganze Generationen traumatisiert hat.

Judith/Irmgard besuchte Alsfeld regelmäßig und pflegte stets den Kontakt mit jener Familie, deren Vorfahre, ein Mitarbeiter der Kleiderfabrik, Adolf Steinberger 1933 vor einem möglichen Anschlag warnte und der Familie damit womöglich das Leben rettete.

Kurz vor ihrem Tod im Jahr 2010 rezitierte Judith Heinrich Heines Loreley; ihr letztes Wort war „Abschied“. Dies bewog Nancy vor sechs Jahren dazu, die Sprache ihrer deutschen Vorfahren zu erlernen, sodass sie mit den Schülern sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch sprechen konnte.

Dank Nancys Engagements konnten diese aus erster Hand die Geschichte von Hetze, Entrechtung und Vertreibung erfahren und gemeinsam mit Nancy erörtern, was nachfolgende Generationen daraus lernen können und müssen – vor allem in Zeiten, in denen Antisemitismus und andere rassistische Tendenzen wieder erstarken. „Ihr und ich, wir müssen dafür sorgen, dass so etwas niemals wieder passiert“, appellierte sie an die gespannten Zuhörer.

Gleichzeitig betonte sie, wie wichtig Vielfalt und Respekt in einer modernen Gesellschaft seien. Zum Abschluss gab Nancys Mann Jeffrey, langjähriger Botschafter für Menschenrechte und Anwalt für Asylrecht, Einblick in seine beeindruckenden karitativen Aktivitäten und sprach über die Chancen, die Diversität und Offenheit einer Gesellschaft bieten.

Nancy Heller

Die Schüler waren beeindruckt und bewegt. Ein Schüler sagte, dass die persönliche Geschichte in Verbindung mit der eigenen Heimatstadt den Schmerz der Vertreibung und das Trauma, das über Generationen hinweg weitergegeben wurde, real und erlebbar gemacht hätten. Eine Schülerin sagte, „auch wenn wir nicht Schuld sind, so möchten wir doch Entschuldigung sagen“.

Einige bedankten sich für den Mut, den Nancy aufbringt, um diese sehr persönliche und schmerzliche Geschichte zu teilen. „Diese Geschichtsstunde wird den Schülerin in Erinnerung bleiben“, da ist sich Geschichtslehrkraft Sarah Schäfer sicher. Sie steht mit Nancy Freund Heller in regem Kontakt, der Besuch im nächsten Jahr ist bereits ins Auge gefasst.

Mitarbeiter Steinberger Kleidungsfabrik

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