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Notarzt Falk Stirkat organisierte einen Hilfskonvoi an die polnisch-ukrainischen Grenze„Die haben ein Trauma erlebt, wie man es schlimmer eigentlich nicht erleben kann“

VOGELSBERG (akr). Falk Stirkat hat sich gemeinsam mit einem Team aus freiwilligen Helfern auf den Weg zur polnisch-ukrainischen Grenze gemacht, um vor Ort zu helfen und Kriegs-Geflüchtete mit nach Deutschland zu nehmen. Im Interview schildert der ehemalige Vogelsberger Notarzt, wie er die Situation an der Grenze erlebt hat, wie die Menschen auf die Hilfe reagiert haben – und warum seine Vorstellungen von der Realität eingeholt wurden.

Drei Tage lang war der ehemalige Vogelsberger Notarzt Falk Stirkat, der mittlerweile in Erlangen lebt, gemeinsam mit weiteren Helfern vor Ort an der polnisch-ukrainischen Grenze. Mit dabei hatten sie unter anderem zwei Reisebusse, mehrere Rettungswagen, darunter auch einen Großraum-Rettungswagen sowie zehn Lkw voller Sachspenden und Medikamente im Wert von fast 20.000 Euro. Gebraucht wurden die Rettungswagen letztendlich aber nicht. Warum die Busse viel wichtiger waren, die Realität an der Grenze anders aussah, als erwartet und wie Stirkat das ganze erlebt hat, das erzählt der 37-Jährige im Gespräch mit Oberhessen-live.

Oberhessen-live: Herr Stirkat, mit welchen Gefühlen haben Sie sich auf den Weg zur Grenze gemacht?

Falk Stirkat: Mit ganz verschiedenen. Zum einen natürlich ein mulmiges, weil wir ja wissen, dass es dort unten nicht lustig ist. Dann natürlich mit hoffnungsvollen, dass wir da unten etwas erreichen und den Menschen wirklich helfen können. Ich war gebannt, auch ein bisschen aufgeregt. So würde ich meine Gefühlswelt beschreiben. Letztendlich war mir aber klar, dass alle Erwartungen, die ich an diese ganze Geschichte habe, nicht erfüllt werden.

Wieso?

Weil man bei sowas nie Erwartungen haben darf. Die werden einfach nie erfüllt, denn es geht ja nicht um einen selbst, sondern es geht ja um die anderen. Und gerade in einem Krisengebiet, da kann man planen, machen und tun wie man möchte. Es wird am Ende trotzdem anders kommen.

Dennoch haben Sie sich entschieden, zu helfen. Warum?

Ich war schon 2015 relativ involviert. Ich bin jetzt eigentlich gar nicht so ein fanatischer Linker, aber ich finde es einfach hochdramatisch, dass im 21. Jahrhundert ein einzelner so viel anrichten kann. Wenn man jetzt von den Konzentrationslagern absieht, muss man klare Parallelen zwischen Putin und Hitler ziehen. Das ist so und das können Sie auch so schreiben. Man muss dem einfach irgendwas entgegensetzen. Man kann ja nicht einfach nach Moskau reisen und sagen: das geht so nicht. Man kann aber Solidarität zeigen.

Und ich glaube, dass das auch ein großer Unterschied zum Zweiten Weltkrieg ist. Im Zweiten Weltkrieg gab es einen Völkerhass, da haben die Deutschen die Polen gehasst und völlig überzeugt für ihr Vaterland gekämpft. Das gibt es hier jetzt nicht. Jetzt gibt es eine überbordende Solidarität, die daher rührt, dass alle anderen sagen, sie wollen dem Wahnsinnigen irgendwas entgegensetzen. Und ich glaube, das ist auch meine Motivation gewesen. Ich möchte meinen Kindern nicht in zehn Jahren erklären müssen, ich habe mir das nur angeschaut und nichts gemacht.

Was ging Ihnen denn durch den Kopf, als Sie vor Ort angekommen sind?

Man muss sich das so vorstellen: Das ist in Polen ja alles sehr europäisch, die sind zum Teil noch moderner, als wir das eigentlich sind. Eine andere Infrastruktur, aber die sind modern. Ein paar Kilometer vor der Grenze war noch ein McDonald‘s. Das war völlig surreal.

Wie hatten Sie es sich denn vorgestellt?

Wahrscheinlich ein bisschen naiv. Ich hatte mir irgendwie eine große Grenze vorgestellt, wo zwei, drei Beamte stehen und mit dem Flüchtlingsstrom nicht klarkommen und wir dann helfen. Aber so war es nicht. Ich habe mir ja vorgestellt, dass man dann irgendwie Menschen vor Ort medizinisch behandelt. Das ist vielleicht auch so ein bisschen deutsches Arroganz-Denken gewesen.

In einer großen Halle wurden die ganzen Spenden untergebracht. Fotos: Stirkat

Man muss sich nur mal vorstellen, die Niederlande werden angegriffen und dann steht da das Rote Kreuz und THW und alle, die es da so gibt und helfen. Und dann kommen die Polen und sagen: So, jetzt machen wir das, weil wir können das viel besser. Genauso war es dort auch. Die Polen hatten eine sehr, sehr gute Flüchtlings-Infrastruktur. Sie hatten ein riesiges Camp aufgebaut, da waren Hilfszüge, viele Sanitäter und Ärzte. Meine Lehre, die ich mir daraus ziehe, ist, dass ich die Art und Weise, wie wir helfen oder wie ich jetzt mit meinen Freunden helfe, verfeinere.

Inwiefern?

Das, was da unten tatsächlich gar nicht so sehr gebraucht wird, ist Manpower. Die brauchen nicht unbedingt Leute, die da runterfahren und helfen. Die brauchen ganz andere Sachen.

Zum Beispiel?

Die brauchen Leute, die da hinunterfahren und Menschen mitnehmen, also Busfahrer und Busse. Und die brauchen Hilfsgüter. Ich habe mit einem Menschen von einer ukrainischen Hilfsorganisation gesprochen und der hat gesagt, dass sie in Lemberg, also Lwiw, in den Krankenhäusern im Grunde genommen gar keine oder kaum noch Medikamente haben und die Versorgung sehr schwierig und schlecht sei. Ich habe dann die vielen Medikamente, die ich dabeihatte, weil ich eigentlich dachte, ich nutze sie als Arzt an der Grenze, was aber nicht notwendig war, nach Lemberg in die Krankenhäuser geschickt. Das war dann die Hilfe.

Die Vorstellungen, die ich hatte, die sind dann einfach von der Realität da unten eingeholt worden. Die Menschen brauchen Hilfsgüter, keine Kleidung, sondern Hygieneartikel, Essen, Babyartikel, Medikamente, medizinisches Equipment.

Wie ging es denn dann weiter, als Sie vor Ort angekommen sind?

Also, als erstes ging es natürlich um die Frage: Wohin mit den vielen Hilfslieferungen? Die zehn Lkw-Ladungen konnte man ja nicht einfach an die Grenze stellen, aufmachen und sagen: Bedient euch. Deshalb mussten wir als erstes eine Spedition finden. Es gab erst eine Partner-Spedition, die meine Kollegen vom RKT, also Regensburger Krankentransporte, organisiert hatte. Das ist dann aber geplatzt, weil das alles nicht so seriös aussah. Und dann haben wir eine ehemalige, aber noch aktive Spedition gefunden, die aktuell nicht mehr läuft, sondern wo praktisch nur Hilfsgüter umgeschlagen werden.

Immer wieder wurden Fahrzeuge be- und entladen.

Dann sind wir dahin und dort kamen dann immer wieder 3,5 Tonner aus der Ukraine, die die Sachen aufgeladen haben. Und dann haben wir einfach, weil noch nicht so richtig klar war, wo denn die Leute jetzt sind, die Hilfe brauchen, uns dort mit ran gehangen. Wir haben dann praktisch den Ukrainern die Laster vollgeladen. Unsere Güter, die wir mithatten, das war nicht ganz so einfach, denn 40-Tonner ausräumen ist nicht mal so kurz gemacht. Da herrschte eine sehr solidarische Stimmung. Das war ein sehr schönes Erlebnis, weil man mit den Leuten so umgegangen ist, als ob man sich schon ewig kennt.

Haben Sie denn auch Geflüchtete mit nach Deutschland genommen?

Ja, knapp 100. Über meinen Instagram-Kanal docfalk hatte ich auch aufgerufen, wer Menschen in unserer Gegend aufnehmen könnte. Wir haben alle unterbringen können, es musste kein einziger in eine Erstaufnahmeeinrichtung.

Was ging Ihnen da durch den Kopf? Das war ja für Sie sicherlich ein Erfolg?

Das war ein totaler Erfolg, das hat mich total gefreut. Ich bin jetzt auch mit mehreren Familien in Kontakt, wo eben diese Personen untergebracht sind. Am Anfang waren die Geflüchteten natürlich skeptisch, ängstlich und sehr zurückhaltend, die kennen das ja nicht, dass da einfach ein Bus kommt, sie mitnimmt und versorgt. Wir haben ihnen dann an der Grenze auch erstmal 250 Burger bei McDonald‘s bestellt. Die armen Mitarbeiter waren völlig fertig. Dann haben sie gesagt, wir haben kein Geld und dann haben wir gesagt, dass das für sie ist. Sie waren da sehr skeptisch. Sie müssen sich vorstellen: Vor zwei Wochen war für sie die Welt noch völlig normal und jetzt sind sie plötzlich in einem ganz anderen Land.

Wie haben Sie denn die Stimmung bei den Menschen wahrgenommen, die Sie mit nach Deutschland genommen haben?

Die waren schwerst traumatisiert, das muss man einfach so sagen. Sie müssen sich vorstellen: Wir sind 14 Stunden Bus gefahren und ich habe nicht einmal ein Kindergeschrei gehört. Die Menschen kommen nicht aus einem Land, wo seit Ewigkeiten Krieg herrscht und wo es jetzt irgendwie schlimmer geworden ist, sodass die fliehen mussten, wie das damals in Syrien war. In Syrien hatten wir den arabischen Frühling, der war 2011. Da war vier Jahre lang Milizenkrieg, Bürgerkrieg. Das war nicht minder schlimm, aber die waren schon vier Jahre lang wirklich schweres Elend gewohnt und kamen dann nach vier Jahren, weil es schlimmer wurde, nach Europa. Jetzt bei den Ukrainern war vor zwei Wochen noch ein Leben, wie es hier bei uns ist, ganz normal.

Die haben binnen kürzester Zeit schwerwiegende Traumata erlebt. Die haben alles verloren, was sie monetär besaßen. Es gab Familien, die kamen mit nichts, die hatten nur das, was sie am Leib trugen. Und gleichzeitig haben sie ihre Familienstrukturen, ihre Zukunftsplanung, ihre Freunde, einfach alles verloren – und das nicht in einer Zeit, wo sie sich vorbereiten konnten.

Konnten Sie dennoch Erleichterung bei den Menschen spüren?

Nein, die waren in Schockstarre, das ist viel zu früh gewesen. Die haben ja gar keinen Grund gehabt, erleichtert zu sein. Wir haben ja nicht eine Familie in Sicherheit gebracht, sondern immer nur Teile der Familie. Die haben ein Trauma erlebt, wie man es schlimmer eigentlich nicht erleben kann und dementsprechend war die Stimmung auch. Die haben ja auch wenn sie hier jetzt in Sicherheit sind, gar keinen Grund zur Ruhe zu kommen oder sich zu entspannen, weil sie wissen, dass ihre Männer und Familien zum Teil einfach noch da sind. Das ist schwerstes, menschliches Leid. Im Grunde genommen kann man das als Völkermord bezeichnen, was da passiert. Wenn das so weiter geht, dann werden die ganzen Männer dieser Kultur Kanonenfutter. Es ist einfach schlimm.

Klare Wort zu Putin.

Durften Sie denn nur Frauen und Kinder mit nach Deutschland nehmen?

Ja. Die haben da ja eine Generalmobilisierung, da darf kein Mann zwischen 18 und 60 das Land verlassen. Da werden gerade Millionen Familien zerrissen. Die Kinder werden alle ohne Vater aufwachsen, selbst wenn sie ihre Väter irgendwann mal wiedersehen. Das wird nicht morgen oder übermorgen sein. Das ist einfach eine Katastrophe.

Haben Sie selbst auch Menschen bei sich aufgenommen?

Nein.

Wieso?

Weil ich keinen Platz habe. Ich habe zwei Kinder und eine schwangere Frau, und dann hängt auch noch meine Schwiegermutter ständig bei uns rum.

Sie haben jetzt schon viel erzählt. Können Sie nochmal konkret die Situation vor Ort an der Grenze schildern?

Also die Polen haben das gut gemacht, das muss man sagen. Das ist kanalisiert, es ist organisiert. Ich höre von einem Pfarrer aus Ungarn, mit dem ich ihn Kontakt stehe, dass das da anders aussieht. In Polen ist das so: Die kommen über die Grenze und gehen dann erstmal in so eine Art Erstaufnahmestation. Das ist eine riesige Halle, wie drei Metrohallen am Stück. Da werden die dann erstmal versorgt und auch so halbwegs irgendwie sortiert und aufgenommen. Und von da aus ist dann das eigentliche Problem, dass es kaum ein Weiterkommen gibt. Es kommen aber sehr, sehr viele Busse, die das einfach aus humanitären Gründen machen.

Menschen lagen sich in den Armen, spendeten sich gegenseitig Trost.

Waren Sie auch in dieser Erstaufnahmestation?

Ja.

Wie haben Sie die Stimmung wahrgenommen?

Naja, völlig scheiße. Die Leute sind einfach in der ersten Phase eines massiven Traumas. Die sind völlig schockiert, sie sind im psychischen Schock. Da ist alles ganz still und leise. Das ist eine ganz komische Stimmung.

Würden Sie denn nochmal zur Grenze fahren?

Ich würde das so nicht nochmal machen.

Wieso und wie dann?

Wie ich schon gesagt habe, weil ich glaube, dass das Verhältnis von Hilfsgütern und freie Plätze sehr ausgewogen sein muss. Man darf da nicht mit zu vielen Menschen hinfahren, weil es nicht für jeden etwas zu tun gibt und man braucht die Plätze für den Rückweg, um Leute mitzunehmen. Man sollte aber niemals alleine da runterfahren. Das ist gefährlich. Auf der polnischen Seite hat man viele Söldner, die versuchen da rüberzukommen. Die Situation ist unübersichtlich, es gibt kaum Handynetz, auch in Polen an diesem Gebiet, weil es einfach überlastet ist. Das ist Kriegsgebiet.

Aber Sie würden schon nochmal hinfahren?

Ja, klar. Ich bin auch heute angerufen worden vom Verein Ukrainischer Bürger in Nürnberg. Die suchen wohl gerade Ärzte, die in der Lage sind, Schwerstverletzte zu behandeln, weil da wohl vor Ort mehr und mehr die medizinische Versorgung zusammenbricht. Ich habe da meine Handynummer hinterlassen. Wenn es konkret werden sollte, kann ich mir schon vorstellen, dass ich da nochmal hinfahre. Runterfahren würde ich tatsächlich nur wieder, wenn sich das mit einer konkreten Aufgabe als Arzt verbindet und das zeichnet sich gerade ab.

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