40-Jähriger wegen fahrlässiger Tötung zu Geldstrafe vor dem Alsfelder Amtsgericht verurteilt„Diese Tragik kann Ihnen kein Gerichtsurteil nehmen“
ALSFELD (akr). Im Sommer 2020 ereignete sich ein schwerer Verkehrsunfall, bei dem ein damals 25-jähriger Beifahrer aus Schlitz noch an der Unfallstelle verstarb. An diesem Dienstag musste sich der Fahrer des Unfallwagens vor dem Alsfelder Amtsgericht verantworten. Er wurde wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe verurteilt.
Auf der Anklagebank sitzt ein 40-Jähriger Mann. Er trägt ein schwarzes Shirt und ein schwarzes Sakko, seine lichten Haare leicht sind nach hinten gekämmt. Bis zu jenem tragischen Unfall, am 22. Juli 2020, wohnte er noch in Fulda, mittlerweile lebt er wieder bei seinen Eltern in Schlitz. Er muss sich an diesem Dienstag wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung vor dem Alsfelder Amtsgericht verantworten.
Sein Verteidiger ist der ehemalige Alsfelder Bürgermeister Ralf Alexander Becker. Als Nebenkläger sind die Schwester des Verstorbenen sowie die Mutter vor Ort. Während die Schwester im Saal 1 des Alsfelder Amtsgericht neben ihrem Vertreter Michael Refflingshaus Platz nimmt, und ein Päckchen Taschentücher auf dem Tisch bereit legt, bleibt der Stuhl neben Erhard Kött leer. Er vertritt die Nebenklage der Mutter des damals 25-Jährigen. Erst zur Urteilsverkündigung wird der Stuhl besetzt sein. Die Mutter wartet lieber erst noch vor der Tür.
Die Staatsanwaltschaft Gießen, die an diesem Tag von Friedemann Vorländer vertreten wird, wirft dem Angeklagten vor, durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht zu haben. Er soll am Abend des 22. Juli 2020 mit seinem Mercedes auf der K80 von Schlitz in Richtung Pfordt unterwegs gewesen sein, ehe er durch eine „heftige Lenkung nach links“ von seiner Fahrbahn abkam, diagonal die Straßenseite kreuzte, in eine Böschung fuhr und das Auto sich schließlich überschlug und auf dem Dach zum Liegen kam.
Während der zu dem Zeitpunkt 39-jährige Fahrer mit schweren Verletzungen in eine Klinik geflogen wurde, kam für seinen 25 Jahre alten Beifahrer jede Hilfe zu spät. Er wurde bei dem Unfall aus dem Auto geschleudert und verstarb noch an der Unfallstelle. Die Staatsanwaltschaft ist der Auffassung, dass dieser tragische Unfall durch eine „angepasste Fahrweise“ hätte verhindert werden können.
Becker erklärt, dass sein Mandat sich nicht zum Sachverhalt äußern wird – weil er es nicht könne. Er würde sich an den Unfall nicht mehr erinnern. Der 40-Jährige wird aber eine persönliche Erklärung abgeben. „Es tut mir schrecklich leid, dass er nicht mehr unter uns ist“, fängt der Angeklagte zaghaft an zu sprechen. Es tue ihm unendlich leid, dass er ihn nicht habe heil nach Hause bringen können. Jeden Tag würde er sich die Frage stellen, wie es zu dem Unfall gekommen sein könnte. „Das soll aber nicht heißen, dass ich mich nicht mitverantwortlich fühle“, sagt er mit glasigen Augen, den Kopf nach unten gesenkt.
Zeuge spricht von „auffälligem Fahrmanöver“
Als erster Zeuge nimmt an diesem Tag ein älterer Herr im Zeugenstand Platz. Er war am besagten Unfalltag zur selben Zeit gemeinsam mit seiner Tochter und Frau auf der Kreisstraße unterwegs, und zwar von Pfordt aus in Richtung Schlitz. Schon von Weitem habe er – er nennt eine Entfernung von 800 Metern, die der Sachverständige aber später widerlegen wird – gesehen, wie das Unfallfahrzeug mit einem „auffälligen Fahrmanöver“ auffiel. Der Angeklagte sei zwischen den Fahrspuren hin und her gewechselt.
„Was macht der da für einen Quatsch?“, habe er seine Tochter gefragt, die davon aber nichts mitbekommen hatte. Zu diesem Zeitpunkt habe es für ihn aber noch nicht nach einem Unfall ausgesehen. Für ihn habe dieses „auffällige Fahrmanöver“ kontrolliert gewirkt. Das Fahrzeug sei dann viel schneller auf ihn zugekommen, als er es gewohnt sei für diese Strecke. Soviel vorab: Laut Gutachter soll der 40-Jährige zwischen 85 bis 94 Km/h gefahren sein. Zulässig sind 100.
Auf Einmal sei der Mercedes nach links ausgeschert, „ich habe im letzten Moment noch gedacht, dass er jetzt bei uns einschlägt“, erzählt der Zeuge. Das war aber nicht der Fall. Und dann sei plötzlich alles voller Staub gewesen, erinnert sich der Zeuge. Er sei daraufhin aus dem Auto ausgestiegen und die Straße zurückgelaufen, ehe er das Unfallauto auf dem Dach liegend vorfand.
Auf der linken Seite habe er zunächst einen Baumstamm vermutet, doch beim näheren Betrachten fiel ihm auf: Es war ein lebloser Mensch, der völlig mit Erde bedeckt gewesen sei. Es handelte sich um den Beifahrer, der bei dem Unfall aus dem Mercedes geschleudert wurde, weil er nicht angeschnallt gewesen sein soll. Der Angeklagte befand sich noch eingeklemmt im Unfallauto.
Doch wie kam es zu dieser plötzlichen Lenkung nach links? Diese Frage wird die Beteiligten im Gerichtsaal an diesem Dienstag beschäftigen. Der Zeuge konnte es sich nicht erklären. Die Straße sei völlig frei gewesen, es war hell und weit und breit kein anderes Auto auf der Straße unterwegs. Ein Wildwechsel habe auch nicht stattgefunden. „Das war völlig surreal“, sagt der ältere Mann im Zeugenstand, der sich einfach nicht erklären kann, wie es zu diesem tödlichen Verkehrsunfall kam – und damit wird er nicht der einzige bleiben.
Vater des Angeklagten: „Ich hatte keinen Zweifel an dem, was er gesagt hat“
Zwei weitere Zeugen werden nach und nach in den Zeugenstand gerufen. Beide sind Polizeibeamte aus Schlitz. Während Zeuge S. am Unfallabend die Aussage des Zeugen aufnahm, war der Beamte K. selbst nicht vor Ort. Er habe am nächsten Tag die Akte gelesen und einen Anruf vom Vater des Angeklagten bekommen. Am Telefon habe ihm der Vater gesagt, sein Sohn hätte ihm im Krankenhaus mitgeteilt, dass noch ein weiteres Fahrzeug auf der Strecke gewesen sei und nicht nur er und der erste Zeuge.
Der Vater des Angeklagten ist der nächste, der seine Sicht des Unfallabends schildert. Er selbst sei gegen 21/21.30 Uhr vom Krankenhaus angerufen worden. Ein Arzt sei dran gewesen, der ihm auch zugleich seinen Sohn gab. Durch seinen Sohn habe er schließlich vom Unfall erfahren, erzählt der 72-Jährige. Im Krankenhaus in Fulda angekommen, habe sein Sohn ihm gesagt, dass er „keine Chance“ gehabt hätte, er hätte ausweichen müssen. Als Grund habe sein Sohn ein weiteres Auto genannt, ohne sich genau erinnern zu können. Daraufhin informierte der Vater die Polizei. „Ich hatte keinen Zweifel an dem, was er gesagt hat“, betont er. Sein Sohn sei ein erfahrener Fahrer, er habe ihm immer total vertraut.
Für ihn sei sein Sohn bei klarem Bewusstsein gewesen. Erst nach der OP, als er in ein künstliches Koma versetzt wurde, sei die „Festplatte gelöscht“ und „nichts mehr da gewesen“, erzählt er. Nicht nur körperlich habe sein Sohn mit den Folgen des Unfalls zu kämpfen, auch die psychische Belastung sei groß. „Das belastet ihn sehr“, sagt er. So habe er schon öfter gesagt, dass er sich wünschen würde, dass es ihn getroffen hätte und nicht seinen Freund.
Ausführliche Schilderung des Sachverständigen
An diesem Dienstag ist auch Michael Katzer geladen. Der 43-Jährige ist Sachverständiger für Kfz-Schäden und Bewertungen sowie Beauftragter für Unfallanalytik der Dekra und wurde am Unfallabend von der Polizei zur Einsatzstelle gerufen. Anhand eines Videos zeigt Katzer die Strecke der K80, auf der der Unfall sich ereignete. Sie ist weder kurvig, noch übersäht mit Schlaglöchern und das Gefälle liege bei etwa vier Prozent, wie der Sachverständige erklärt.
Das Fahrzeug des Angeklagten, das er als sehr „fahragiles“ Auto bezeichnet, sei in einem technisch ordentlichen Zustand gewesen. Die Sommerreifen seien zwar erst knapp zwei Jahre alt, aber schon kurz vor der Verschleißgrenze gewesen und auch die Bremsen seien vor dem Unfall „enorm beansprucht“ worden. Ob das in unmittelbaren Zusammenhang mit dem Unfall stand oder mit dem „auffälligen Fahrmanöver“, das der ältere Herr schilderte, kann er nicht nachweisen. Bremsspuren habe es nämlich keine gegeben. Dafür aber Reifenspuren, Rutschspuren oder aber Aufprallspuren.
„Aufgrund der Spurenlage gehe ich davon aus, dass der Beifahrer nicht angeschnallt war“, erklärt Katzer. Der Anschnallgurt habe aber funktioniert. In seinen Ausführungen geht der Unfall-Experte darauf ein, dass der Verstorbene bei dem Unfall nicht herausgeschleudert worden wäre, wenn er angeschnallt gewesen wäre. Da der Aufprall aber genau auf dem Sitzbereich des Beifahrers erfolgte, dort also die Hauptgewalteinwirkung war, wären seine Überlebenschancen gleich Null gewesen.
Als es zu dem Unfall kam, soll der Angeklagte zwischen 85 bis 94 km/h schnell gewesen sein. Zugelassen sind auf der Strecke 100. Zu schnell sei er also nicht gewesen und auch die 100 hätte man dort fahren können. Hinweise auf „unkontrolliertes Schleudern auf der Fahrbahn“ habe es keine gegeben, erklärt der Sachverständige. Ebenso auf das „auffällige Fahrmanöver“, was der ältere Herr beobachtet haben will. Für die plötzliche Lenkung nach links gebe es ebenfalls keine technischen Gründe und auch keine Spuren. Auch wenn ein anderes Auto beispielsweise zum Überholen angesetzt hätte, hätten die Spuren anders ausgesehen. Einen Wildwechsel könne er nicht bestätigen, aber auch nicht ausschließen.
Staatsanwaltschaft: „Unfall wäre vermeidbar gewesen“
Nach der Beweisaufnahme ist sich die Staatsanwaltschaft sicher: Der Vorwurf der fahrlässigen Tötung hat sich bestätigt. „Es steht außer Frage, dass der Angeklagte das Fahrzeug gefahren und die Kontrolle verloren hat“, betont Friedemann Vorländer. Er glaube dem Zeugen, dass sich keine weiteren Autos auf der Strecke befunden haben, die eine Rolle gespielt haben könnten und auch von einem Wildwechsel habe er nichts geschildert.
Unsicher ist Vorländer bezüglich der Schilderungen, dass der Angeklagte bereits einige hundert Meter vor dem Unfall eine auffällige Fahrweise an den Tag gelegt hätte. Das habe der Zeuge nämlich erst an diesem Dienstag geschildert, im Zeugenprotokoll direkt nach dem Unfall seien die Schilderungen nicht vorgekommen. „Es gibt auch keine Spuren, die das bestätigen“, betont der Staatsanwalt. Es bleibe die eigentliche Lenkung nach links, er sei nicht vorher schon leichtfertig gefahren.
„Der Unfall wäre vermeidbar gewesen“, ist sich Vorländer sicher. Es habe keinen technischen oder sonst irgendeinen Grund gegeben, der den Angeklagten zu dieser Lenkung veranlasst hätte. Dass der 40-Jährige weder vorbestraft ist oder sich sonst irgendwas hat zu Schulden kommen lassen, würde für den Angeklagten sprechen, ebenso wie das Auto, das eben laut Katzer in einem technisch ordentlichen Zustand war. Er könne auch nicht dafür belangt werden, dass der Beifahrer nicht angeschnallt war. Unter Alkohol- oder Drogeneinfluss habe er ebenfalls nicht gestanden, er habe selbst schwere Verletzungen erlitten, sei arbeitsunfähig und habe einen Freund verloren.
Vorländer zufolge liegt hier eine „einfache Fahrlässigkeit mit schlimmsten Folgen“ vor. Deshalb fordert er eine „Geldstrafe auf Bewährung“, um es in einfachen Worten auszudrücken – und zwar 90 Tagessätze à 30 Euro. Ein Jahr Bewährungszeit erachtet er als ausreichend. Würde er also gegen seine Bewährung verstoßen, müsste der Angeklagte die Tagessätze zahlen. Zusätzlich – unabhängig von einem Verstoß – fordert Vorländer, dass der Angeklagte 2500 Euro an eine gemeinnützige Organisation spendet.
Die Nebenkläger-Vertretungen Erhard Kött und Michael Refflinghaus fordern kein Strafmaß. Zufrieden mit dem, was die Staatsanwaltschaft fordert, sind beide aber nicht. Dass die Bremsen im Vorfeld so beansprucht wurden, lässt laut Kött auf eine „sportliche Fahrweise“ rückschließen – und das passe zur Aussage des Zeugen. Er bedauert, dass der Angeklagte sich nach dem Unfall nicht einmal mit der Mutter seines verstorbenen Freundes in Verbindung gesetzt habe, um sich zu entschuldigen.
Refflinghaus ergänzt noch einen weiteren Punkt. Dass die Sommerreifen nach nur knapp zwei Jahren kurz vor der Verschleißgrenze waren, aber das über 20 Jahre alte Auto erst auf rund 100.000 Kilometer kam, das könne für ihn bei einer normalen Fahrweise nicht der Fall sein. „Hier ist sehr sportlich gefahren worden“, betont er.
Verteidiger Becker fordert Freispruch
Einen Freispruch fordert Verteidiger Becker. Schiebt aber nach, dass wenn das Gericht keinen Freispruch erwägen sollte, er sich für eine Geldstrafe ausspricht, die milder als die ausfällt, die die Staatsanwaltschaft fordert. „Die Quintessenz ist, dass wir nicht sagen können, warum die Lenkbewegung vorgenommen wurde“, betont er. Man müsse genau am Tatbestand bleiben. Sein Mandant sei weder zu schnell unterwegs gewesen, noch sei man in der Lage, die beanspruchten Bremsen in einen „kausalen Zusammenhang“ zu stellen. Auch ein Wildwechsel sei im Bereich des Möglichen. „Wir können nicht sagen, was die Ursache ist“, betont er erneut, weshalb er sich dafür ausspricht, seinen Mandaten nicht zu verurteilen.
Das letzte Wort, bevor Richter Dr. Bernd Süß das Urteil an diesem Tag verkünden wird, hat der Angeklagte. Der 40-Jährige betont auch hier, dass es ihm unendlich leid tue. Er habe den Kontakt zur Mutter noch nicht gesucht, weil er nicht habe sagen können, wieso er so reagiert hat. Er habe den Prozess abwarten und dann auf sie zugehen wollen. „Es tut mir wirklich leid“, sind seine letzten Worte, die er wieder mit glasigen Augen und gesenktem Kopf ausspricht.
Nach einer kurzen Pause sind alle Beteiligten wieder im Saal 1 versammelt. Mit dabei: Die Mutter des Verstorbenen. Nun ist der Platz neben Kött nicht mehr frei. Dann fällt das Urteil: Der Angeklagte wird zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 30 Euro verurteilt. „Eins Vorweg. Ein solches Urteil kann nie ein gerechtes sein, weil es in so Fällen kein gerechtes Urteil gibt“, betont Dr. Süß, ehe er zu seiner Begründung kommt.
Dem Richter zufolge liegt ein „Sorgfaltspflichtverstoß“ vor. Man könne zwar keinen Grund feststellen, theoretische Zweifel würden aber nicht ausreichen. Auch er vertraut dem Zeugen, dass es keine weiteren Autos oder einen Wildwechsel gab. Das habe der Zeuge auch von sich aus angesprochen, ohne dass er diesbezüglich befragt wurde. „Er konnte nicht mal im Ansatz eine Erklärung liefern, weshalb es dazu gekommen sein könnte“, erklärt Süß und vertraut auf die Zeugenaussage.
Im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft erkennt er aber keine „einfache“ Fahrlässigkeit. Er bewertet sie als „mittlere“. Weshalb sich der Richter auch gegen eine vorbehaltene Geldstrafe entscheidet. „Es ist keine hohe Strafe, dafür gibt es verschiedene Gründe“, sagt Dr. Süß – unter anderem eben die Tatsache, dass der Angeklagte nicht zu schnell unterwegs war, sogar unter den erlaubten 100 km/h lag. Auch eine „sportliche Fahrweise“ könne er ihm nicht unterstellen.
„Diese Tragik kann Ihnen kein Gerichtsurteil nehmen. Ich kann Ihnen keine Gerechtigkeit liefern“, denn in solchen Fällen, für einen solchen Verlust, gebe es eben kein gerechtes Urteil, betont Dr. Süß in Richtung der Hinterbliebenen, ehe er die Verhandlung nach knapp drei Stunden schließt und die Tränen bei den Familienmitgliedern des Verstorbenen fließen.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Wie Verteidiger Becker auf Nachfrage von Oberhessen-live mitteilt, hat sich sein Mandant dagegen entschieden, dass Rechtsmittel eingelegt werden.
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