Online-Auftakt der Route55plus Vogelsberg am 26. und 28. OktoberSchräge Hobbies Gesucht
VOGELSBERG (ol). Vor drei Jahren startete das Evangelische Dekanat Alsfeld ein Projekt, das Menschen zusammen bringen soll, die kleinere Projekte oder Ausflüge gemeinsam mit anderen auf den Weg bringen möchten: die Route55plus. Damals wurden mit dem Slogan „Schräge Hobbies gesucht“ Personen gesucht, die ihre außergewöhnlichen Hobbies teilen wollen, die den Vogelsberg neu entdecken oder ihre Freizeit aktiv gestalten möchten. Das Außergewöhnliche an diesem Angebot: Die Inhalte werden gemeinsam erarbeitet, jeder kann neue Ideen mit einbringen.
„Sie wollten schon immer mal Kanu fahren ausprobieren? Sie stricken gerne – aber am liebsten in einer geselligen Runde? Sie würden gerne gärtnern ohne eigenen Garten? Das alles geht, denn unser Netzwerk besteht inzwischen aus über 100 Menschen, die ihre Hobbies und Erfahrungen mit anderen teilen“, berichtet Franziska Wallenta vom Evangelischen Dekanat Vogelsberg.
Holger Schäddel und sie gestalten die Innovative Erwachsenenarbeit 55plus, ein Arbeitsbereich davon ist die Route: „Wir bieten mit diesem Projekt einen Rahmen, in dem Ideen entstehen und wachsen können. Regelmäßig finden Stammtische und Treffen statt, die ein Kennenlernen untereinander und einen Austausch über die Interessen ermöglichen. Nach drei Jahren Projektzeit möchten wir nun neuen Interessierten die Möglichkeit bieten, die Route55plus kennenzulernen und Fragen zu stellen“, so die beiden Koordinator*innen.
Die Webseite www.route55plushessen.de ist von Anfang an Bestandteil des Projekts. Hier findet man Termine und viele Infos von allen Standorten in Hessen. Auch der Auftakt in der kommenden Woche wird digital stattfinden. Er werden dazu zwei Zoom-Konferenzen angeboten. Am Montag, 26. Oktober 2020, um 20 Uhr sowie am Mittwoch, 28. Oktober 2020, um 10 Uhr sind Interessierte herzlich eingeladen.
Wer dabei sein möchte, erhält unter franziska.wallenta@ekhn.de oder holger.schaeddel@ekhn.de die Zugangsdaten für das Onlinetreffen. Die beiden unterstützen im Vorfeld auch gerne telefonisch unter 06631/91149-16 bzw. -17, falls es Fragen zur Einwahl in das Online-Meeting gibt. Jeweils 15 Minuten vor Beginn findet zusätzlich ein Technik-Check statt. Für die Teilnahme benötigt man keinen eigenen Account.
dass derartige Projekte zwar ein gutes „Design“ aufweisen, aber die geweckten Erwartungen deshalb nicht einlösen, weil sie unterfinanziert und nicht langfristig gesichert sind. Wer will denn auf einer halben Stelle, die vielleicht nur von einem zum nächsten Jahr verlängert wird, ständig unbezahlte Mehrarbeit leisten, um die tollen Ziele auch wirklich einzulösen?
Ich stelle auch immer wieder fest, dass Kirche eine Veranstaltung für den materiell abgesicherten Mittelstand ist. Ältere Menschen mit kleinen Renten können es sich zum Beispiel nicht immer leisten, im Restaurant zu essen, wenn sie am „Stammtisch“ teilnehmen wollen. Auch Ausflüge und Exkursionen kosten. Da war bei den Route55-Koordinator*innen, die im Grunde Jungschar-Arbeit für Senioren veranstalteten, die erforderliche Sensibilität nicht immer vorhanden.
Die Kirche muss aufhören mit der Trennung ihrer Schäfchen in gut situierte Aktivisten, die eine soziale Aufgabe suchen und um Spenden angegangen werden können, und Bedürftige, die man bevormunden kann und die dankbar sein müssen.
Sehr unangenehm fand ich die Vorstellung von alternativen Wohnprojekten im Rahmen von route55plus, wo eigentlich Privatunternehmer Investoren suchten, die gerade ihr großes Haus verkauft hatten, um ihr Geld dann in Kleinwohnungen oder Mini-Häuser zu investieren. Ein Projekt, das auf genossenschaftlicher Organisation beruhte und auch für weniger Betuchte geeignet gewesen wäre, wurde dagegen einfach unter den Teppich gekehrt. Es hatte sich eine Gruppe gebildet, die dann nicht einmal mehr im Protokoll erwähnt wurde. Dafür aber natürlich eine Strickgruppe, eine Kanu-Gruppe und eine Gemeinschaftsgarten-Gruppe. Merkwürdig.
Mit 55 Jahren gehört man gemeinhin noch nicht zu den Senioren. Auch wenn es 55 plus heißt, dürften die Älteren so etwa ab 65 wohl nicht im Fokus stehen. Eine Spanne von 55 bis 75 oder älter dürfte kaum überbrückbar sein, auch wenn es immer mehr „Power-Rentner“ gibt, die selbst als Hochbetagte noch körperlich und geistig so fit sind, dass sie im Garten wühlen oder beim Kanufahren im Wasser stehen können.
Vor allem, wenn des den „Koordinatoren“ eines Projekts wie „route55plus“ an einer speziellen Qualifikation für die Arbeit mit älteren Menschen fehlt, entsteht leicht die Tendenz zum „raisin picking“, d.h. man orientiert sich inhaltlich und organisatorisch an den Fittesten, die noch fast alles mitmachen. Das wird dann tatsächlich schnell mal eine Art Jungschar-Programm, nur eben mit alten Leuten, aber dafür mit „jugendbewegten“ Betreuern. Zoom-Konferenzen oder Online-Treffen dürften viele der Älteren nicht nur technisch überfordern. Gerade ältere Alleinstehende suchen den persönlichen Kontakt. Da wären vielleicht Treffen in kleinerem Rahmen, aber dafür mit Gelegenheit zu persönlicher Begegnung sinnvoller. Allerdings erfordert dies dann auch mehr als zwei Betreuer*innen mit halber Stelle.
„‚Sie wollten schon immer mal Kanu fahren ausprobieren? Sie stricken gerne – aber am liebsten in einer geselligen Runde? Sie würden gerne gärtnern ohne eigenen Garten? Das alles geht, denn unser Netzwerk besteht inzwischen aus über 100 Menschen, die ihre Hobbies und Erfahrungen mit anderen teilen‘, berichtet Franziska Wallenta vom Evangelischen Dekanat Vogelsberg.“
Vielleicht fragt mal einer, wie viele von den „über 100 Menschen“ denn an den in drei Jahren entstandenen drei Freizeitaktivitäten tatsächlich teilnehmen? Kanu fahren, Strickgruppe und Gemeinschaftsgarten… Das sind genau die Aktivitäten, die es überhaupt nur gibt und die entweder im Winter nicht, im Sommer nicht und wenn überhaupt, dann oft nur sehr sporadisch stattfinden. Bis zu Corona bestand die Hauptaktivität darin, sich einmal im Monat in wechselnden Gaststätten zu treffen und auf eigene Kosten eine Pizza oder ein Schnitzel (etc.) zu verzehren.
Das nannte sich dann „Stammtisch“ und diente hauptsächlich dazu, die Besucher mit einer Flut von Flyern, Flugblättern und Prospekten aus der Kirchendruckerei einzudecken. Zusätzlich gab es noch zwei- bis dreimal im Jahr sog. Austauschtreffen, die aber von den beiden Kirchen-Mitarbeitern sehr stark vorstrukturiert wurden. Man konnte sich austauschen, nur führte das zu nichts. Ein „Rahmen, in dem Ideen entstehen und wachsen können“, war nicht zu erkennen. Jedenfalls wuchsen nicht die Ideen der Teilnehmer, sondern die der beiden Gruppenleiter, und die waren nicht allzu zahlreich. Mehrere seniorenspezifische Projekte, die ich anregte, wurden förmlich sabotiert oder als nicht „zum Konzept passend“ abgelehnt. Schriftliche Proteste wurden mit alternativen Fakten konterkariert oder blieben unbeantwortet. Klar „möchten [„die beiden Koordinator*innen“] nun neuen Interessierten die Möglichkeit bieten, die Route55plus kennenzulernen und Fragen zu stellen“. Denn die alten „Alten“ dürften inzwischen abgesprungen sein. „Außergewöhnliche Hobbies“ mögen für jüngere Leute interessant sein. Aber was soll man mit „Radfahren am Kilimandscharo“ oder „Thailändisch Kochen“? Derartige „Corona-fördernde Ideen“ haben schon in der Vergangenheit niemanden außer den Luxus-Rentnern, die sie einbrachten, angesprochen. Jetzt kommt man damit wieder daher. Vielleicht bewerbe ich mich mal mit „Zehennägelschneiden in Australien“ oder „Lamas kraulen in Peru“.
Fazit: „Innovative Erwachsenenarbeit 55plus“ bzw. „Route55plus“ vom Ansatz her gut, aber Praxis nicht überzeugend. Mit zwei Teilzeitkräften, die zudem m.E. schon vom Alter her für Seniorenarbeit ungeeignet oder zumindest nicht hinreichend vorbereitet sind, lässt sich so ein ambitioniertes Konzept nicht umsetzen. Vor allem fehlte die Kooperation mit den Teilnehmern. Das autoritäre und letztlich bevormundende Selbstverständnis kirchlicher Sozialarbeit schlug immer wieder durch. Zudem neigen junge Menschen wohl dazu, gegenüber Senioren, die noch nicht komplett hilfsbedürftig und für jede Zuwendung dankbar sind, ihren Status zu verteidigen.
P.S.: Meine Einschätzung wird übrigens teilweise auch von Fachpersonal des Landkreises geteilt. Wie ich im informellen Gespräch erfahren habe, ist dort ebenfalls aufgefallen, dass Anspruch und Wirklichkeit bei der „Innovativen Erwachsenenarbeit“ der Evang. Kirche zumindest im Seniorenbereich zweierlei sind.