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Erinnerung an Reichspogromnacht in Alsfeld - Paule bei seiner Ansprache:„Das heutige Gedenken muss Motivation für uns alle sein“

ALSFELD (jal). Diejenigen, die jedes Jahr dort sind, waren sich einig: Dieses Mal waren es deutlich mehr Alsfelder, die gekommen waren, um den Verbrechen der Reichspogromnacht vor 80 Jahren in ihrer Stadt zu gedenken. Geschätzt mehr als 100 Menschen waren es, die sich dort, wo einst die Alsfelder Synagoge brannte, versammelten, an die Schrecken von damals erinnerten – und dabei den Bogen zu den Besonderheiten unser heutigen Zeit schlugen.

Manchmal sind es die kleinen Gesten, die Bemerkungen in einem Nebensatz, die den Geist einer ganzen Veranstaltung auf den Punkt bringen. „Kommen Sie näher zusammen“, sagte Pfarrer Peter Remy zu den Gästen, noch etwas verstreut beieinander standen. „Das ist doch gerade in der heutigen Zeit wieder wichtig: Dass wir näher zusammenkommen.“ Dieser Gedanke zog sich wie ein roter Faden im Hintergrund durch die gesamte Zeremonie an diesem Abend.

Ohne konkrete Parteien, Akteure oder Namen von heutigen Personen zu nennen, sprachen die Redner die Herausforderungen des Hier und Jetzt an. Den Hass, den es vielerorts gibt, die Gräben, die sich durch unsere Gesellschaft ziehen. Man dürfte sich nicht all zu weit aus dem Fenster lehnen mit der Vermutung, dass die aktuelle, gesellschaftliche Situation bei uns im Land der Grund gewesen sein dürfte, weshalb mehr Menschen als sonst die Jahre an der Feier teilnahmen.

Pfarrer Peter Remy

Doch zu Beginn seiner Rede erinnerte Pfarrer Remy zunächst an die harten Fakten der Nacht, die die Nationalsozialisten später spöttisch „Kristallnacht“ nannten, als sei nur Glas in ihren Stunden zu Bruch gegangen. Dabei passierte in dieser Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 so viel mehr. 1400 Synagogen gingen laut Remy in Flammen auf, 7500 jüdische Geschäfte wurden geplündert, 30.000 jüdische Männer inhaftiert, etwa 1300 jüdische Menschen brutal geschunden und ermordet. „Die Täter kamen nicht von einem fremden Stern, sondern aus der Mitte unseres Volkes, die meisten von ihnen galten als ‚unbescholtene Bürger‘, nahezu alle waren getaufte Christen“, sagte Remy.

Auch in Alsfeld verrichteten die Nazis ihr Werk, beobachtet von einer Menschenmenge, die nach allem was man weiß meist schweigend daneben stand, als um 21.15 Uhr die Alsfelder Synagoge in Flammen aufging, ihre Fensterscheiben eingeschlagen wurden. Die Alsfelder Feuerwehr, so erzählt Remy, sei angewiesen worden, zunächst nicht zu löschen. Einen Feuerwehrmann habe man mit gezogener Pistole in einer Kneipe davon abgehalten, zum Einsatz zu eilen.

Die Nazis sprachen zynisch von „Schutzhaft“

Zu diesem Zeitpunkt, fünf Jahre nach Hitlers Machtergreifung, lebten etwa 100 Menschen jüdischen Glaubens in Alsfeld. 1933 waren es noch 220 gewesen – fünf Prozent der Alsfelder Bevölkerung. Auch in Alsfeld blieb es nicht beim Angriff auf die Synagoge. In der Hersfelder Straße sperrten Nazis die jüdische Männer der Stadt in einen Keller und sprachen zynisch von „Schutzhaft“. Jüdische Geschäfte wurden geplündert, die Waren auf die Straße geworfen.

Remy mahnte die Anwesenden, es sich nicht zu einfach zu machen. Sich nur als „die Guten“ zu fühlen, die sich über die „Bösen“ empören, das sei zu billig. „So einfach und so billig ist das Gedenken nicht zu haben!“, sagte der Pfarrer und nannte Antisemitismus einen „Ungeist“, der auch die Herzen derjenigen vergiften könne, die sich für „die Guten“ halten. Das zeige sich in unbedachten Redensarten genau wie in der Weise, wie oft über Israel und die Nahostfrage gesprochen werde. Viele würden in dieser Sache entgegnen, was habe das eine mit dem anderen zu tun. „Viel, ist meine Antwort, sehr viel, sogar. Mehr als es auch den Aufrechten bewusst ist“, sagte Remy.

Um die 100 Alsfelder waren zu der Veranstaltung gekommen – mehr als sonst die Jahre, hieß es.

Die Musik zu der Zeremonie lieferte die Alsfelderin Lea Hamel mit ihrer Klarinette. Schülerinnen und Schüler der Geschwister-Scholl-Schule trugen Gedichte vor. Eines davon, ein Werk von Walter Ecker, wirkte brandaktuell, obwohl es die Lehrerin der Gruppe in einem älteren Ordner gefunden hatte. „Ich schäme mich, dass hier in meinem Land, in dem wir ‚Heil‘ und ‚Jud‘ verrecke‘ schrieen, schon wieder – als sei nichts gescheh’n – die Neonazis durch unsere Straßen ziehen. Ich schäme mich“, hieß es darin.

Bürgermeister Stephan Paule erinnerte in seiner Ansprache an den 9. November als deutschen Schicksalstag, an dem immer wieder spaltende und versöhnende Ereignisse stattgefunden hätten. Neben der Reichspogromnacht nannte Paule als Beispiele die Ausrufung der „Deutschen Republik“ 1918 zum Ende des Ersten Weltkriegs hin durch Philipp Scheidemann – fast zeitgleich mit der Proklamation der „Sozialistischen Republik“ durch Karl Liebknecht, den Hitler-Ludendorff-Putsch 1923 in München und 1989 den Fall der Berliner Mauer.

„Das heutige Gedenken muss Motivation für uns alle sein“, sagte Paule unter Verweis auf die Polarisierung, die derzeit vielerorts auf der Welt statt findet – in den USA genau wie in Deutschland. Es müsse die „Staatsräson“ einer modernen, wehrhaften und lebendigen Demokratie sein, eine weitere Spaltung zu verhindern – mit Worten, und nicht mit Gewalt, wie Paule betonte.

Zum Schluss der Zeremonie verlasen die Schülerinnen und Schüler der GSS die Namen der 48 bekannten Alsfelderinnen und Alsfelder, die über einen längeren Zeitraum hinweg von den Nazis deportiert und ermordet worden sind. Steine mit den Namen und dem Alter der Opfer beschriftet teilten die Jugendlichen anschließend an die übrigen Teilnehmer des Gedenkens aus, die die Kiesel am Gedenkstein in der Lutherstraße niederlegten.

Die Steine mit den Namen der Deportieren.

Ein Gedanke zu “„Das heutige Gedenken muss Motivation für uns alle sein“

  1. Wo doch die Alsfelder Feuerwehr ein so beliebtes Thema bei OL ist… Wie wäre es mal mit einem authentischen Bericht vom Alsfelder Synagogenbrand am 09.11.1938 unter besonderer Berücksichtigung der Löschaktivitäten der Freiwilligen Feuerwehr?
    Quelle: http://www.alemannia-judaica.de/alsfeld_synagoge.htm:
    >> Dazu der Zeitzeugenbericht des langjährigen Schulrates Karl Rausch über die Ereignisse beim Novemberpogrom: „Ich erfuhr erst am nächsten Morgen, dem 10. November 1938, bei einem Gang durch die Stadt, von dem erschreckenden Ereignis. Man erzählte erregt, dass die SA gestern Abend gegen 21:00 Uhr, als die Straßen bereits nahezu menschenleer waren, die Synagoge angesteckt hätte. Die alarmierte Feuerwehr, so erfuhr ich weiter, durfte auf Befehl des Ortsgruppenleiters nicht löschen, die Leute aus der Nachbarschaft haben zugesehen, wie das Gebäude brannte. <<
    Zur Ehrenrettung der Alsfelder Bürger muss gesagt werden, dass man das jüdische Bethaus nicht einfach der Feuersbrunst überließ. Das zahlte sich aus, denn:
    "Das vollständige Niederbrennen wurde durch den Vorsitzenden der Bezirkssparkasse (zugleich SA-Führer) und den Bürgermeister der Stadt verhindert. Ersterer erwarb wenig später das Gebäude und baute es 1939 nach dem teilweisen Abriss des Betraumes zu einem Wohnhaus um."
    Vor "betroffener Erinnerungsnostalgie" (https://www.oberhessen-live.de/2016/11/09/gedenken-48-juden-alsfeld/) wird gewarnt!

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