Gesellschaft0

Fall Johanna Bohnacker: Angeklagter Rick J. gab seine Version der Geschehnisse wieder„Die Geilheit überkam mich“

GIEßEN. Am zweiten Prozesstag um den gewaltsamen Tot der Achtjährigen Johanna Bohnacker vor 19 Jahren macht der Angeklagte Rick J. seine Aussage. Dabei verstrickt er sich aus Sicht der Staatsanwaltschaft in Widersprüche – und bringt die Richterin gegen sich auf. Aus dem Gießener Landgericht berichtet Alina Roth. 

Irgendwann reicht es der Richterin. „Ich glaube ihnen kein Wort“, sagt sie und bleibt dabei ganz sachlich. Gemeint ist Rick J., der Angeklagte im Mordfall Johanna Bohnacker. Der Mann soll das Mädchen vor 19 Jahren sexuell missbraucht, umgebracht und in einem Waldstück bei Lingelbach anschließend zurückgelassen haben. J. hatte sich bereit erklärt, an diesem zweiten Prozesstag voll auszusagen. Doch das was er von sich gibt, bringt nicht nur die Richterin gegen ihn auf. Auch Staatsanwalt Thomas Hauburger, der J. so lange auf den Fersen war, ringt mit sich, die Contenance zu bewahren. Zu viele Widersprüche, zu viele neue Details, die von den Aussagen des Angeklagten im Polizeiprotokoll abweichen, finden sich nach Hauburgers Sicht in dem, was J. vor Gericht erzählt.

Doch der Reihe nach. J. beginnt seine Erzählung mit dem Abend vor der Tat, dem 1. September 1999. Er sei mit einem Freund zunächst gemeinsam feiern gegangen, um sich anschließend bei einem Bekannten Drogen zu besorgen. Um 6 Uhr am Morgen, so sagt er, sei er wieder alleine Zuhause gewesen. Um weiter wachbleiben zu können, habe er „eine dicke Nase Crystal“ gezogen, sei anschließend in sein Auto gestiegen und ziellos durch die Gegend gefahren.

Die harten Drogen in seinem Kreislauf sind für J. maßgeblich für das verantwortlich, was an diesem Tag noch geschehen sollte. Er sei mit seinem Auto einige Zeit auf einer Straße unterwegs gewesen, an die an Radweg grenzte. Dort habe er ein Mädchen an einem Bach spielen sehen, das er anfangs für 13 oder 14 Jahre alt gehalten habe. „Die Geilheit überkam mich“, sagt J., er habe das Mädchen unbedingt haben wollen. Die Auswirkungen des Crystals seien Schuld, mutmaßt er.

Der Staatsanwalt reagiert verärgert

Die Blättern in der Hand des Angeklagten zittern teilweise leicht, als er von dem Tag damals vor 19 Jahren berichtet. Ihm scheint es jedoch nicht unangenehm zu sein, über die Geschehnisse zu berichten. Auf die Frage, ob er denn ein Kondom dabei gehabt hätte, antwortet er schlicht „Ne, bin ja auch beschnitten, ich merke sonst nichts.“

Staatsanwalt Hauburger will wissen, ob J. schon mit der Absicht losgefahren sei, sich an einem Kind zu vergehen. Das wisse er nicht, sagt der Angeklagte, er gehe aber nicht davon aus. Wahrscheinlich, so sagt er, sei ihm der Gedanke erst auf der Fahrt gekommen. „Ich will wissen, woran sie sich erinnern und nicht wovon sie ausgehen“, sagt Hauburger leicht verärgert. J. bleibt dabei. Hätte er geplant, sich an einem Mädchen gewaltsam zu vergehen, hätte er sich besser vorbereitet, sagt er.

J. schildert, wie er seinen Wagen zu der kleinen Johanna auf den Radweg lenkte. Und wie er sich eine dreiviertel Flasche Chloroform über den Ärmel seines Sweatshirts geschüttet, Johanna von hinten geschnappt und ihr den nassen Stoff auf Mund und Nase gedrückt haben will, um sie zu betäuben. Daraufhin habe er sie rückwärts in den Kofferraum seines VW Jettas gezogen und mit Spannseilen ihre Arme zusammengebunden.

Staatsanwalt Thomas Hauburger zusammen mit Anwalt Uwe Krechel.

Als die Richterin und der Staatsanwalt das hören, stutzen beide. Bei der Polizei gab der Angeklagte noch zu Protokoll, das Chloroform über einen Lappen gekippt zu haben. Weshalb er überhaupt ein solches Mittel in seinem Auto bei sich hatte, möchte die Vorsitzende wissen. J. sagt, er benutze die Chemikalie, um seine Drogen „zu reinigen“. Da das Mittel wie ein Brandbeschleuniger wirkt, habe er es zusammen mit ähnlichen Substanzen zur Sicherheit in seinem Auto aufbewahrt, sagt J.

Nach einiger Zeit mit dem Mädchen in seinem Kofferraum unterwegs habe er sich Sorgen gemacht, wie lange die Betäubung wirke und wie sicher die Fesselung mit den Spannseilen gewesen sei. An einer Pferdekoppel habe er ein weißes Seil hängen sehen, sagt J., mit dem er Johanna anschließend fesselte.

Doch auch das war J. offenbar noch nicht sicher genug. Ihm fiel seinen Angaben nach das silberne Klebeband ein, das die flauschigen Sitzbezüge seines Wagens festhielt. Weil die verfusselten Streifen nicht mehr besonders gut klebten, will J. sich zu einer Tankstelle in Nidda aufgemacht haben, um neues, braunes Klebeband zu besorgen.

Erneut Widersprüche in der Aussage

Hier ergibt sich aus Sicht der Staatsanwaltschaft der nächste Widerspruch. Im Polizeibericht steht beispielsweise nichts vom silbernen Panzerband, das er im Auto zur Befestigung seiner Sitzbezüge hatte. Erst als er die Anklageschrift gelesen hatte, soll ihm das silberne Panzerband wieder eingefallen sein. Und an der besagten Tankstelle konnte er der Zeugenaussage des damaligen Pächters zufolge gar kein Klebeband kaufen, weil dort so etwas niemals im Sortiment vorhanden war. Doch J. bleibt bei seiner Version der Geschichte.

Nachdem er das Klebeband dort gekauft habe, habe er sich einen ruhigen Ort gesucht, um seine Fesselkonstruktion zu verstärken. Als er seiner Meinung nach einen passenden Ort gefunden hatte, ging er zum Kofferraum. Beim Öffnen des Klappe habe Johanna geschrien, und sei ihm quasi entgegengekommen. Er habe ihr mit der Hand ins Gesicht geschlagen und sie somit wieder in den Kofferraum gedrückt und sie erneut gefesselt. Diesmal will er ihr auch Mund und Augen mit Klebeband verbunden haben.

Dabei, so sagt J., sei ihm bewusst geworden, dass Johanna nicht 13 oder 14 Jahre alt sei, sondern viel jünger – genauer gesagt war sie zu der Zeit gerade mal acht Jahre alt. Als er das bemerkt habe, soll das Mädchen keinerlei sexuellen Reiz mehr für ihn dargestellt haben. Zu einem sexuellen Kontakt sei es nicht gekommen – das sieht die Anklage anders. J. sagt, er sei mit der Situation überfordert gewesen und habe einen Ort gesucht, wo sie „relativ schnell Hilfe finden würde.“ Seine Begründung: „Man kann ja schließlich keinen Menschen hilflos in der Pampa aussetzen.“

Es ist nicht leicht herauszuhören, ob es nun Wut, Trauer, Verzweiflung oder eine Mischung aus allen drei ist, was in dem Schnauflaut mitschwingt, der in diesem Moment von der Bank der Nebenklage kommt. Dort sitzt Johannes Mutter, der Vater des Mädchens bereits gestorben. Sie hoffe, dass diese unendliche Geschichte doch bald ein Ende finden würde, hatte sie beim Prozessauftakt gesagt.

In Lingelbach wurde Johanna gefunden

Der Ort, für den sich J. schließlich, entschied, war ein Waldstück bei Lingelbach. Dort angekommen habe er Johanna aus dem Kofferraum gehoben und dabei festgestellt, dass ihre Haut ganz kühl gewesen sei und das Mädchen nicht mehr geatmet habe. Zudem habe er starken Fäkaliengeruch wahrgenommen und um zu prüfen, ob er von ihr ausging, zog er ihr die Hose auf Oberschenkelhöhe runter. Da sei es ihm erst bewusst geworden, dass Johanna tot sei. Erstickt durch das viele Klebeband – ein Unfall, wie er sagt. Er habe ihre Leiche über die Schulter genommen, sie einige hundert Meter in den Wald reingetragen und dort abgelegt. Danach sei er nach Hause gefahren, wo er gegen 21 Uhr angekommen sei.

„Ich bin erstaunt, was sie hier abliefern“, sagt Staatsanwalt Hauburger schließlich. Anderthalb Stunden habe der Angeklagte damals seine Aussage bei der Polizei noch kontrolliert. Und jetzt bringe er diese zahlreichen neuen Aspekte auf den Tisch. Rick J. antwortet nervös, dass es eine Sache wäre, es vor der Polizei einzuräumen oder eben eine andere, es vor der Öffentlichkeit zu tun. Außerdem habe er sich damals nur an einzelne Szenen erinnert. Jetzt, nachdem er in der U-Haft sich intensiv mit allem beschäftigen haben können, werde der ganze Ablauf für ihn klarer.

Allerhand Gutachter und Sachverständige sollen im Laufe des Prozesses noch Aussagen, um den Hergang der Geschehnisse möglichst genau zu rekonstruieren.

Schreibe einen Kommentar

Bitte logge Dich ein, um als registrierter Leser zu kommentieren.

Einloggen Anonym kommentieren