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Gedankenvolles zu Heiligabend über Wohlstand und SolidaritätFrohe Weihnachten: Uns geht es gut!

Heiligabend – da bekommt Alsfeld mit fortschreitendem Nachmittag einen Hauch von Mystik. Schaue ich aus der Tür der Redaktion, sehe ich die leere Straße des Roßmarktes in Alsfeld – und nicht anders dürfte es auch in Lauterbach, Schlitz oder Schwalmstadt aussehen. Kaum noch ein Fußgänger ist unterwegs, die Parkplätze, auf denen sonst reges Kommen und Gehen herrscht, erscheinen leergefegt. Nur der Wind sorgt für Bewegung, indem er Nieselregen vor sich hertreibt, die Lichter der Weihnachtsbeleuchtung im Dämmerungsblau tanzen lässt. Es ist eine Stimmung, die zum Nachdenken anregt.

Dieser Text noch, und dann werde ich mich auch zurückziehen: nach Hause, wo wahrscheinlich bereits der Weihnachtsbaum geschmückt ist, wo Familie und Gemütlichkeit mich erwarten. Wärme, gutes Essen, trockener Rotwein, vielleicht ein paar Geschenke und sicherlich lächelnde Gesichter. Mit einem Wort: wo Friede und Wohlstand herrschen. Ein Wohlstand, so finde ich, den wir aber inzwischen viel zu selbstverständlich nehmen. Zu selbstvergessen, zu egoistisch – zu undankbar. Wir tun so, als gäbe es nur uns als göttlich Auserwählte dieser Welt, ein System zu genießen, um das uns drei Viertel der Weltbevölkerung beneidet. Wir tun, als ob wir es erfunden hätten.

Das stimmt doch nicht. Wir genießen eine Wirtschaftskraft und eine soziale Absicherung, die wir weder geschaffen noch verbessert haben. Erstere ist das Ergebnis der Schaffenskraft vieler Generationen Europäer, und für unsere sozialen Errungenschaften haben sich vor 100 oder 150 Jahren unsere Vorfahren auf Barrikaden die Köpfe abschießen lassen. Sie sind das Ergebnis von leidenschaftlicher Solidarität in der Arbeiterschaft unserer Ur- und Ururgroßeltern im Kampf mit der herrschenden Klasse aus Feudalismus und Kapitalismus. Als wir geboren wurden, waren die Strukturen schon alle da, die uns heute das üppige Weihnachtsfest ermöglichen. Anders gesagt: Wir sind kraft Geburt nur Konsumenten eines Systems, das uns ein gutes Leben ermöglicht. Warum sind wir so undankbar?

Warum haben wir die wichtigste Lehre aus den 150 Jahren seit der industriellen Revolution verlernt? Nämlich, Solidarität zu zeigen? Warum ist bei so vielen Menschen der Horizont so klein, obwohl doch heute eine riesige Vielfalt an Informationsmöglichkeiten besteht? Die Antwort darauf ist vielleicht die Antwort darauf, warum die unselige PEGIDA-Bewegung tatsächlich Tausende Menschen bewegt, die sich nicht als rechtsradikal bezeichnen, obwohl sie von Rechtsradikalen angeführt werden. Welcher engstirnige Frust treibt an, gegen eine vermeintliche Gefahr zu marschieren, die nachweislich gar keine ist? Mir scheint, wenn man sich die Stimmen so anhört, viele von den Leuten in den PEGIDA-Märschen gehören zu denen, die alle Toleranz und Freiheit für sich beanspruchen, aber für andere Menschen und Meinungen nur die Knute übrig haben, die in Facebook-Postings mit dem Wort „verbieten“ nur so um sich werfen.

Haben die vergessen, dass sie nicht alleine sind auf der Welt, dass wir die Welt und ihre Menschen brauchen – so wie die Flüchtlinge gerade uns? Dass Deutschland auch Menschen von außerhalb als Einwanderer braucht, von deren Knowhow und Vielfalt nur profitiert? Letztlich: dass die Zeiten nationalstaatlicher Abschottung kaiserlicher Prägung längst passé sind? Wenn wir heute von Solidarität sprechen, so wie es einst unsere Ahnen taten, die für uns den allgemeinen Wohlstand erkämpften, dann müssen wir wahrlich weltumspannend denken – und erfinden damit gar nichts Neues. „Die Internationale“ hieß schon das Kampflied der frühen Sozialisten. Die Welt ist kleiner geworden, und wir können uns nicht ausgrenzen. Wen wir heute aussperren, werden wir morgen vermissen. Aus den Gesichtern so vieler PEGIDA-Anhänger spricht eine Verdrossenheit, die ihnen nicht zusteht!

Ihr wollt Probleme angehen? Die gibt es: Klimaveränderung, Energiewende, versteckte Armut heute, die in große Altersarmut morgen münden wird. Das sind Themen, für die man sich solidarisieren könnte – aber die haben nichts mit einer „Islamisierung“ zu tun. Für diese Probleme solltet Ihr mal vor der eigenen Tür kehren.

So. Die Glocken läuten. Nun reicht es wirklich. Nun will ich meinen Heiligabend genießen, und ich hoffe, Sie können das auch! Bei allem Unverständnis für die Unverständigen in den PEGIDA-Märschen: Die Mehrheit denkt, zum Glück ,anders. Frohe Weihnachten! Uns geht es gut!

Axel Pries

2 Gedanken zu “Frohe Weihnachten: Uns geht es gut!

  1. Ne kleine boshafte Anmerkung in diesem Zusammenhang: Julius-Turm war leider gestern.
    Unsere späteren Renten werden aus demoskopischen Gründen letztendlich von den „Einwanderern“ und deren Kindern bezahlt. (Ich persönlich habe übrigens meine diesbezügliche Pflicht „für Volk & Vaterland“ erfüllt)

  2. Hallo Herr Pries,
    als begeisterte Leser von Oberhessen-Live, wünschen wir Ihnen und Ihrer Familie ein frohes Weihnachtsfest und ein gesundes, neues Jahr.
    Bitte weiter so mit Ihrer, zeitnahen Berichterstattung.
    Wenn ich morgens den Computer starte, bin ich bereits über das informiert, was ich am nächsten Tag in der Zeitung lesen kann.
    Mit freundlich Grüßen
    Edeltraud und Hans Zimmer

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