Fehlerhafte Blindenleitsysteme in Alsfeld – Gefährliches Pflaster am BahnhofVom Bahnhof bis zum Marktplatz verwirrend
ALSFELD. Angenommen, ein blinder oder schwer sehbehinderter Mensch besucht Alsfeld und reist mit dem Zug an – die Schwierigkeiten würden schon auf dem Bahnsteig direkt nach dem Aussteigen beginnen. Und bis zum Marktplatz lauern weitere gefährliche Punkte auf den Mutigen, der sich alleine auf den Weg macht. Zu dieser Erkenntnis kommt, wer mit einem Fachmann die Strecke vom Bahnhof zum Marktplatz geht, dabei die Orientierungshilfen genauer betrachtet. Es ist ja viel getan worden, lautet ein Fazit, aber das meiste ist mehr „gut gemeint“ als „gut gemacht“ – und kann für Blinde mitunter sogar zur bösen Falle werden.
Klaus-Dieter Böcking, einer der wenigen sehenden Aktiven im Blindenbund Osthessen, ist so ein Fachmann, der sich mit den Hilfen für Sehbehinderte auskennt, die in den vergangenen Jahren immer mehr in Gehwege eingebaut werden. Auch in Alsfeld, womit die Stadt ihrem eigenen Anspruch nach Barrierefreiheit für behinderte Menschen gerecht werden möchte. Indes: Die Häufung der weißen Platten in kommunalen Wegstrecken sieht zwar nach viel Aufwand aus, ist aber nicht überall sinnvoll, erklärte Böcking unlängst, als er auf den Informationstag für Blinde am 29. und 30. August in Romrod hinwies (Oberhessen-live berichtete).
„Für einen Blinden höllisch gefährlich“
Ein normal sehender Mensch achtet gar nicht darauf. Aber man stelle sich die Welt einmal vor, wie ein Blinder sie erlebt, sobald er oder sie im Alsfelder Bahnhof den Zug verlassen hat – umgeben von einer großen, gleichförmigen Fläche aus Platten. Der Stock ertastet in alle Richtungen den gleichen Untergrund und mit Glück die Kante, die in den Abgrund führt: die Bahnsteigkante. Oder die Kante, mit der die Treppe in die Unterführung beginnt. „Für einen Blinden ist das höllisch gefährlich“, fasst Klaus-Dieter Böcking die Situation auf dem Alsfelder Bahnhof zusammen.
Das gebe es reichlich Nachholbedarf, will man die Anlagen behindertengerechter gestalten: Ein Auffangstreifen müsste vor der Bahnsteigkante warnen, RIppenplatten müssten vom Zug zur Treppe führen, deren Stufen durch Aufmerksamkeitsfelder angekündigt werden. Indes: Die Bahn kommt Behinderten baulich wenig bis gar nicht entgegen, haben gerade auch Alsfelder Stadtverordnete erfahren müssen. Ein Aufzug mit akustischer Funktion soll den Bahnhof behindertengerechter machen. An den Kosten – so ließ die Bahn AG lapidar mitteilen – werde man sich nicht beteiligen (Oberhessen-live berichtete). Aber die Bahn profitiert von der Aufwertung der Immobilie – was Alsfelder Kommunalpolitiker in Wut versetzte.
Eine Sofortmaßnahme zur Unterstützung Sehrbehinderter könnte sich Böcking aber doch vorstellen: „Eine gute Ausleuchtung wäre nötig!“ Damit wenigstens jene, die noch einen Rest an Sehvermögen haben, sich zurecht finden.
Es fehlt ein Hinweis auf die Fahrbahnkante: ein Fußgängerübergang in Romrod, wie man ihn in Alsfeld auch überall findet. Das „Kasseler Rollbord“ sei für Blinde keine wirkliche Hilfe, sagt Klaus-Dieter Böcking.
Vor dem Bahnhof sieht es nur auf den ersten Blick besser aus, findet der Blindenvertreter Böcking. Dort liegen ein paar der markant weißen Baulemente zur Orientierung für Blinde im Gehweg-Pflaster direkt vor der Tür. Sie führen irgendwie über den Vorplatz zum gegenüberliegenden Gehsteig – aber nicht zum Fahrkartenautomaten neben dem Eingang. Führung fehlt schon drinnen in der Halle, und auch draußen weist keine Hilfe den Weg zum Ticket.
Und grundsätzlich: Dem Alsfelder Bahnhof fehlt eine öffentlich zugängliche behindertengerechte Toilette. Als er danach einmal am Ticketschalter fragte, bekam er dedn Tipp, es gegenüber im Lokal zu probieren. Das hat am Tag gar nicht geöffnet. Vor dem Verlassen des Bahnhofs hat Böcking aber doch auch ein gutes Wort für die Bahn-Mitarbeiter in Alsfeld übrig: An dem Bahnhof gebe es gute akustische Hinweise. Sprich. Die Ansagen sind nach seiner Meinung gut.
„Kasseler Rollbord“ leitet auf die gefährliche Fahrbahn
Dafür wird die Falle vor dem Bahnhof auch für laienhafte Sehende schnell erkennbar. Es fehlt ein „taktiler Kontrast“ zwischen dem „Kasseler Rollbord“ am Ende des Gehsteigs und dem rauen Schmuckpflaster direkt dahinter. Sprich: Blinde können schlecht ertasten, wo der Weg endet und die Fahrbahn beginnt – und laufen gegebenenfalls direkt in die Gefahr. Auf der anderen Seite der Fahrbahn: Gehwege und Bushaltestellen. Noppen- und Rippenfelder liegen im Boden. Dem Sehenden ist klar. Die zeigen Anfang und Ende des Bussteigs an. Nicht für den Blinden, erklärt Böcking. Das Noppenfeld, das Aufmerksamkeit erregen soll, ist viel zu klein, das Richtungsfeld führt unbestimmt über die Haltestelle. „So etwas finden Sie in keinem Leitfaden“, meint er. Für Blinde sei das kleine Noppenfeld eher ein Hinweis auf eine Fahrbahnquerung.
Er geht in Richtung Alicestraße – folgt einem Führungsfeld auf dem Gehweg in der Bahnhofstraße. Das sei eigentlich überflüssig, meint er. Die Mauer am Rande des Fußwegs sei Führung genug. Dafür fällt die Führung an der Ampel wiederum nicht ausreichend aus: dem richtungsweisenden Führungsfeld fehlt ein Abschluss, der klar zeigt: Hier kommt die Fahrbahn. Aus ähnlichem Grund fallen auch die weiteren Führungsfelder an den Ampelübergängen be ihm durch: stets das gleiche „Kasseler Rollbord“, das Rollstuhlfahrern eher hilft, dem aber ein Sperrfeld für Blinde fehlt.
Gut gemeint, aber nutzlos, meint der Blindenfachmann: Die Führung entlang der Bahnhofstraße ist überflüssig, dafür die an der Bushaltestelle verwirrend.
Diese Mängel treten nicht zufällig auf, erklärt Klaus-Dieter Böcking. In Deutschland würden es mehrere Leitfäden angewandt, und in der Region sei immer noch ein veralteter Maß der Dinge beim Bauen. Außerdem bemängelt er Hindernisse, die eigentlich schnell entschärft werden können: Die herausragenden Betonfüße am Kerber-Bauzaun, die dunkelgrauen „Beton-Pilze“ an der Ecke zur Martin-Kober-Straße seien Stolperfallen. Und dem Blinden-Vertreter ist generell klar: „Die ganze Straßengestaltung: Das müsste theoretisch alles gemacht werden. Aber das ist viel zu teuer.“
Straßen-Verkaufsstände: für Blinde ein Dschungel
So bleibt es beim Hinweis, dass die beliebten Straßen-Verkaufsstände in der Obergasse für Blinde einen wahren Dschungel bedeuten, dass es auch auf dem Marktplatz an Führung fehlt. Das alles mag Grund dafür sein, dass die Blinden in der Stadt sich auch mit Ausbildung nicht alleine auf die Straße trauen – und deshalb so wenig im Straßenbild sichtbar sind. Es könnte aber auch sein, räumt Klaus-Dieter Böcking ein, dass viele nicht aus dem Haus gehen, weil sie auch noich sehr betagt sind.
Aber was ihm wirklich böse aufstößt, sind grobe Fehler, die dem Gedanken der blindenfreundlichen Stadt widersprechen. Einen solchen Fehler findet man in der alten Liederbacher Straße. Dort hat das Straßenverkehrsamt vor Jahren bei der Erneuerung eine lange Führungsschiene in den Gehweg eingebaut – und danach Hinweisschilder montiert, die in die Führung hinein ragen. Klaus-Dieter Böcking schüttelt den Kopf: „Das ist der Hammer! Da rennt man gegen, wenn man nicht sieht.“
Von Axel Pries
„Es sind in der Regel ältere Leute, die Schwierigkeiten haben“
Der 69-jährige Klaus-Dieter Böcking ist eines der wenigen sehenden Mitglieder im Blindenbund Osthessen. Der ehemalige Grenzschutzbeamte wurde für den Bund als Organisator aktiv, nachdem seine Ehefrau erblindete. Im Gespräch mit Redakteur Axel Pries erklärt er, worin die Hauptprobleme der Blinden liegen.
Herr Böcking! 130 Mitglieder hat der Blindenbund Osthessen. Was sind das für Leute? Sind das Betroffene, Blinde, Aktivisten wie Sie?
Es sind in der Mehrzahl Blinde, dann Schwerstsehbehinderte und einige Leute, die die Blinden als fördernde Mitglieder dabei sind. In unserem Fall sind das zwölf Leute.
Was ist denn das Hauptanliegen des Blindenbunds?
Der Blindenbund vertritt seine Mitglieder gegenüber dem Staat, der Industrie, Firmen und gegenüber Behörden – zum Beispiel in Sachen Blindenleitsysteme, bei denen es wirklich Änderungsbedarf gibt. Der Hauptsitz ist in Frankfurt am Main. Der Blindenbund hat zehn Bezirksgruppen, und wir gehören zur Bezirksgruppen Osthessen.
Warum sieht man eigentlich so selten Blinde auf der Straße?
Ja, das ist ein Problem. Den Leute wird manngfaltig Hilfe zugesagt – das heißt, allen Behinderten – vom Staat, von allen Selbsthilfe-Organisationen, von der UN und von der Europäischen Union, aber wenn es ins öffentliche Budget eingreift, und dann werden die Maßnahmen nicht nicht richtig umgesetzt, so dass die Betroffenen verunsichert werden und lieber Zuhause bleiben. Also ich persönlich würde meine (blinde – Red.) Frau nie alleine mit dem Blndenlangstock auf die Straße schicken – obwohl sie ein Mobilitätstraining absolviert hat.
Wer ist denn der typische Blinde oder Sehbehinderte bei uns? Sind das Opfer von Unfällen? Oder von Krankheiten?
Im Moment beginnt das Mitgliedsalter in unserer Bezirksgruppe praktisch bei 65. Es gibt vereinzelte Ausreißer nach unten, aber die sind selten. Es sind also in der Regel ältere Leute, die Schwierigkeiten haben: erstens einmal mit der Krankheit und zweitens mit dem Alltag, weil sie ihr Leben neu gestalten müssen, was gerade in diesem Alter schwer zu bewerkstelligen ist.
Und dann ist es schwer, diese Menschen zu mobilisieren.
Ja. Und es sind vor allem Alltagsprobleme im Haushalt, die viele Leute nicht in den Griff bekommen.
Nun gibt es Hilfen für die Strecken außer Haus. Man gibt sich Mühe heute – so sieht es zumindest aus – aber warum funktioniert das nicht so?
Mühe wird zweifelsohne aufgewendet. Die Ansätze sind aber verkehrt. Die ersten Blindenleitsysteme wurden 1967 in Japan erfunden. Und es dauerte bis 1985, dass sie nach Europa und Deutschland kamen. Dann hat man eine erste Din-Vorschrift erarbeitet. Aber die war so fehlerbehaftet, dass die hessische Bauverwaltung einen neuen Leitfaden erarbeitet hat. Als die auf den Markt kam, haben die Blinden-Organisationen alle ‚hurra‘ geschrieen – aber im Laufe der Zeit haben sich einige Schwachpunkte herausgestellt. Die Betroffenen zweifelten dann den Leitfaden an – das tue auch ich. Er erscheint veraltet und zu komplex. Es bieten sich einfach zu viele Möglichkeiten an, und keiner sagt, was das Richtige ist. Es gibt für alles verschiedene Lösungen. Und der neue Leitfaden, der 2010 mit Vertretern der Blindenverbände erstellt wurde, der wird nicht angewandt. HessenMobil ist da ziemlich stur.
Sind denn die zuständigen Behörden für Sie eher Gegner oder eher Partner für den Blindenbund?
Im Moment sind sie nicht unbedingt Partner – um das mal vorsichtig zu formulieren.
Das stimmt der Bahnhof ist nicht Behindertengerecht. Selbst für ein gesunden Menschen ist es manchmal schwer wenn man schweres Gepäck hat und man alles die Treppe runter tragen oder hoch ist es schon schwierig geschweige jemand sitzt im Rollstuhl wie soll er hoch oder runter kommen da muss was passieren
LG
Ute Grunwald