Politik3

Professor Dr. Tim Engartner zeigte schonungslos die Schwächen der Privatisierung für den Sozialstaat aufVon Marx und dem Kapital, das selbst vorm Galgen nicht zurückschreckt

ALSFELD (cdl). „Die Reichen werden immer reicher und die Armen werden immer zahlreicher“, so Professor Dr. Tim Engartner während seines Vortrags mit dem Titel „Staat im Ausverkauf – Privatisierung in Deutschland“ am Dienstagabend im Hotel Klingelhöffer in Alsfeld.

An zahlreichen Beispielen machte der Professor für politische Bildung an der Frankfurter Goethe-Universität die Auswüchse der Privatisierung deutlich. Dabei schränkte er jedoch ein, dass ein Großteil der Privatisierung aus betriebswirtschaftlicher Sicht Sinn macht. Jedoch geschehe dies auf Kosten der Steuerzahler und führe auch zu Lohndumping aufseiten vieler Arbeitnehmer. Tim Engartner war einer Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) gefolgt und einer der ersten Stipendiaten der Stiftung.

Bestes Beispiel für eine gescheiterte Privatisierung im Vogelsbergkreis sei die Müllabfuhr. „Bei der Müllabfuhr ist alles schief gelaufen, was schief laufen kann“, machte Dietmar Schnell von der RLS bei der Vorstellung des Gastes deutlich. Das Wort Privatisierung stamme vom lateinischen Verb ‚privare‘ ab, was so viel bedeute wie berauben, so Engartner. Der Neoliberalismus sei eine Art Zivilreligion und habe sich als narrativ in unseren Köpfen festgesetzt. Viele Vertreter der  Bankenwelt leugnen auch in Podiumsdiskussionent, „dass es in Deutschland überhaupt Armut gibt. Selbst meine FDP wählenden Eltern haben begriffen, dass es Armut gibt“, begann Engartner.

Jedoch gebe es auch Grund zur Hoffnung in Form von Rekommunalisierung. Mittlerweile hätten 150 Städte und Gemeinden in Deutschland die Müllentsorgung rekommunalisiert. „Ein silberner Streif am Horizont“, so Engartner. Die Müllgebühren hätten sich im Zuge der Privatisierung verdoppelt und an einigen Orten sogar verdreifacht. Daher würden so viele Kommunen mittlerweile aktiv gegensteuern.

„Wir leben im Zeitalter der Alternativlosigkeit. Es gibt keinen Begriff, den die Rautenkanzlerin öfter benutzt als alternativlos. Dabei ist bekanntlich mit Ausnahme des Todes nichts alternativlos“, so der Frankfurter Politikprofessor. Dem Bund der Steuerzahler gelinge es mit seinem ‚Schwarzbuch‘ einmal im Jahr, die Versäumnisse des Staates aufs Tableau zu heben. Wenn man die Versäumnisse der Privatwirtschaft auch einmal erfassen würde, würde das ganze Regale füllen.

Prekäre Beschäftigungsverhältnisse im Zuge der Privatisierung

An fünf Beispielen machte der die Auswüchse der Privatisierung deutlich und begann dabei sogar im alten Rom und ging dann über auf die private Trinkwasserversorgung der Weltstadt London, wo täglich 920 Millionen Liter Wasser im Erdreich versickern würden, weil es sich für den privaten Betreiber schlicht nicht lohne, zu modernisieren. Ein weiteres Beispiel sei die britische Bahn mit 11.000 Jahren Verspätung binnen zehn Jahren nach der Privatisierungum, um im Anschluss auf zwei Beispiele in Deutschland überzugehen. Die Bundesdruckerei sei zur Hälfte privatisiert worden, daher seien trotz der Pleite des anglo-amerikanischen Investors heute noch Führerscheine und Ausweispapiere so teuer, weil der Bund den Investor habe retten müssen.

Seine markantesten Beispiele waren jedoch die Deutsche Telekom und die Deutsche Post AG. Jeder denke zunächst, dass die Privatisierung allen Kunden die gesunkenen Gebühren gebracht hätten. Jedoch seien die Beschäftigungsbedingungen im Konzern eine wahre Katastrophe. Was dort passieren sei geradezu dramatisch und es hätten sich wahre Drückerkolonnen gebildet. Herausgekommen seien dabei die heute sogenannten Aufstocker. Ein Schlag ins Gesicht für Arbeitnehmer im Vollzeiterwerb, die aufstocken müssten. Letzten Endes bezahle der Steuerzahler die prekären Verhältnisse. Daher sei telefonieren nur vermeintlich billiger geworden. Natürlich sprach er in diesem Zusammenhang auch den Netzausbau mit schnellem Internet im ländlichen Raum an. Früher wäre das Unternehmen in Staatshand dazu verpflichtet gewesen.

Hinzu komme, dass der augenscheinliche Erfolg der Telekom und der Post auf der massiven Unterstützung des Staates und somit der Steuerzahler basiere. Acht Milliarden Euro an Pensionslasten müsse der Staat jährlich bis ins Jahr 2032 an die Post ausschütten. Nur dadurch sei der globale Erfolg der Post möglich geworden. Das werde aber nicht kommuniziert.

„Vom rheinischen Kapitalismus zum schweinischen Kapitalismus“

Man habe den Schritt von der Sozialen Marktwirtschaft hin zum angloamerikanischen Kapitalismus vollzogen. Dabei gelte die Mär von der Macht des Marktes. Der Gesundheitsmarkt habe die Zweiklassenmedizin befördert. Auch im Vogelsbergkreis gebe es eine rückläufige Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen. „Auf den Arbeitsmarkt kommen zu den armen Erwerbslosen, die erwerbstätigen Armen“, stellte der Professor fest. Über acht Millionen Menschen seien davon betroffen. Außerdem funktionierten der Bildungsmarkt und der Verkehrsmarkt auch nicht. „Die Märkte funktionieren nirgends, dennoch ist die Mär von der Allmacht der Märkte immer noch so präsent“, bekräftigte der Referent. Ihn ärgere besonders, dass Menschen, die an sozialstaatlichen Prinzipien festhielten, als ewig gestrige gelten.

Die Betrachtung der Wertschöpfungsgrößen habe sich komplett verändert und orientiere sich nur noch am Gewinn. Das habe zu einem Paradigmenwechsel geführt mit der Konsequenz, dass die Löhne, Mieten, Steuern und Zinsen gesenkt werden müssten. Die radikale Gewinnorientierung unter Auslassung der bekannten Restgrößen sei problematisch, da Gewinn an sich per se nichts Schlechtes sei. „Schon Karl Marx habe zusammengefasst: 10 Prozent Rendite, das Kapital schläft noch. 20 Prozent Rendite: Das Kapital wird wach. 100 Prozent Rendite: Das Kapital schreckt auch vor dem Galgen nicht zurück“, so Engartner.

„Es ist ein Irrglaube, dass durch Privatisierung Dienstleistungen besser, billiger und bürgernäher werden“, bekräftigte der Sozialwissenschaftler. Das Ganze habe mit der Ära Kohl 1982 eingesetzt, der einen schlankeren Staat gefordert habe. Aus dem schlanken Staat sei ein magersüchtiger Staat geworden. Der Bund habe sich seitdem von 90 Prozent seiner Beteiligungen getrennt. Im Anschluss habe rot-grün diesen Prozess weiter verschärft. „Niemand hat mehr privatisiert als rot-grün“, so Engartner.

Kommunen Haupteinfallstor der Privatisierungspolitik

Auf kommunaler Ebene gebe es ganz ähnliche Entwicklungen mit einer Vielzahl an Privatisierungen. In Nordrhein-Westfalen sei jede zweite Kommune dem Haushaltssicherungsgesetz unterworfen (in Hessen ähnlich Schutzschirm). Somit seien die Kommunen mehr oder weniger zum Privatisieren verdammt mit fatalen Folgen zulasten von Schwimmbädern, Museen, Theater, ÖPNV und weiteren Kultureinrichtungen.

Für Kommunalpolitiker jedweder Couleur seien Privatisierungsmodelle hochattraktiv, damit sie innerhalb einer Legislaturperiode Erfolge vorweisen könnten. So habe beispielsweise Dresden sich von allen 48.000 Wohnungen getrennt und Düsseldorf von einem Prozent der RWE-Anteile. Beide Städte seien mit einem Schlag schuldenfrei gewesen. Modelle der öffentlich-privaten Partnerschaft (ÖPP) würden immer beliebter. Was zunächst nach Patenschaft klinge, sei aber vielmehr Komplizenschaft. Das sei das Haupteinfallstor für Privatisierungspolitik.

Beispiele gebe es zur Genüge. Schulen, Krankenhäuser und vieles mehr würden nicht mehr selber gebaut und im Anschluss gemietet. Das komme den Steuerzahler über einen Zeitraum von 30 Jahren aber viel teurer, da die Investoren schließlich die Rendite bräuchten. Wenn eine ÖPP betrieben werde, müsse die Kommune lediglich Miete zahlen und das nicht auf ihre Schuldenlast anrechnen. Durch Schutzschirme, Haushaltssicherungsgesetze und bald auch der Schuldenbremse habe die Politik oft gar keine andere Wahl. Das sei ein großer Privatisierungstreiber. „Der Staat wird zur Handlungsunfähigkeit verdammt und ihm keinerlei Spielräume gelassen“, so Engartner.

Viele Fallstricke bei ÖPP für Kommunen

Das Paradebeispiel für ÖPP sei die Elbphilharmonie schlechthin. Sie habe 77 Millionen Euro kosten sollen. Am Ende seien es aber 868 Millionen Euro und somit das zwölftteuerste Gebäude der Welt geworden. Das Fatale seien dabei immer die abgeschlossenen Verträge. Dafür zeichneten sich hoch spezialisierte Anwaltskanzleien aufseiten der Konzerne verantwortlich. Die Stadt müsse sämtliche finanzielle Risiken tragen und die Politiker hätten vor Vertragsabschluss keine Chance das Vertragswerk nur ansatzweise zu durchschauen. Erschwerend hinzu komme, dass diese Verträge der Geheimhaltung unterlägen. Das machte er am Beispiel von Toll Collect deutlich. Der Vertrag liege in der Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages. Der oberste Kontrolleur als Abgeordneter des Deutschen Bundestages käme selbst nicht an die Unterlagen heran, und wenn es ihm gelinge, dürfe er nicht darüber reden. Im Fall von Toll Collect sei dem Bund ein dreistelliger Millionenbetrag entgangen und bei der Elbphilharmonie habe die Stadt für die explodierten Mehrkosten zahlen müssen.

Fehlentwicklungen im Bildungs- und Verkehrswesen

Im Bildungswesen gebe es ebenfalls eine dramatische Fehlentwicklung. Die Generierung von Wissen sei nur noch die Akkumulation von Humankapital. Heutzutage drängten große Marketingabteilungen bereits in die Kindergärten und Kitas. „Der Kampf um die Köpfe der Kinder in den Klassenzimmern ist voll entbrannt“, erklärte der Politologe. Kinder würden in Krippen, Kitas und Kindergärten zu Kunden. Immer häufiger gehe auch im Bildungswesen Profit vor Pädagogik. Schulen und Hochschulen gerieten in immer stärkerem Maße in die Abhängigkeit der Privatwirtschaft. „Nicht wenige der Unternehmen und Stiftungen, die vorgeben, sich um Bildung verdient zu machen, wollen tatsächlich nur mit ihr verdienen“, so Engartner.

Die Maut sei ein angeblich besonders modernes Instrumentarium, um nutzergerecht abzukassieren. „Das ist ein Rückfall in die Wegezölle des Mittelalters“, bekräftige Engartner. Man dürfe nicht einmal der Tagesschau glauben, wenn es dort heiße, Gabriel stoppt Autobahnprivatisierung. In Deutschland seien bereits sieben Autobahnabschnitte teilprivatisiert und das geschehe bereits seit Mitte der 90er Jahre. Dobrindt, Gabriel und Schäuble hätten gemeinsam dafür gesorgt, dass privatwirtschaftlich in Straßen investiert werden könne. Gabriel habe es mit den historisch niedrigen Zinsen begründet. Banken und Versicherungen bräuchten in diesen Zeiten eine Anlagemöglichkeit. „Die Pkw-Maut kommt, das geht gar nicht mehr anders“, so der Professor.

Jeden Tag fahre die Deutsche Bahn 8.000 Stunden Verspätung ein und ziehe sich schrittweise aus der Fläche zurück. Sie trenne sich von sämtlichen Bahnhofsgebäuden und veräußere sie an private Investoren. „Das waren einmal die Kathedralen des Fortschritts und Aushängeschilder der Städte“, so Engartner. Die Bahn habe sich vom Schienenverkehr verabschiedet. Sie sei der größte Luftfrachttransporteur Europas und im Besitz des größten Speditionsunternehmens für Straßenverkehr. Außerdem sei sie weltweit in 152 Staaten aktiv und erziele 60 Prozent ihres Umsatzes mit Bahn fremden Dienstleistungen. Für den traditionellen Bahnkunden interessiere sie sich nicht. Außerdem sei sie mit der Bonität des Staates im Rücken auf internationale Einkauftour gegangen.

Rente ist ein Paradebeispiel für Lobbyismus

Bereits an vielen Stellen zuvor hatte der Politikwissenschaftler auf Lobbyismus in vielen Bereichen hingewiesen. Explizit stellte er dies aber noch einmal anhand der Riester-Rente heraus. Sie haben sich als großer Flop erwiesen. „Die Rente ist ein Paradebeispiel für Lobbyismus“, bekräftigte Engartner. Walter Riester sei mit mindestens 180.000 Euro Nebenverdiensten 2009 aus dem Bundestag ausgeschieden. Insgesamt 69 bezahlte Nebentätigkeiten hätte er da aufweisen können. Darunter seien rund 90 Prozent bei Versicherungsanstalten gewesen. Um 651 Prozent hätten die Finanzanlage- und Fondsgesellschaften ihre Bruttoaufwendungen für Werbung zwischen 1995 und 2000 gesteigert. Schröder habe den Sozialstaat Bismarckscher Prägung abgeschafft. Ohne Lobbyismus sei kaum eine Privatisierung denkbar. „Die Privatisierung der Altersvorsorge ist das Ergebnis einer langjährigen und äußerst geschickten politischen Kampagne“, so Engartner.

Abschließend beschrieb er aktuelle Entwicklungen auf kommunaler Ebene als eine Art „Rollback“, was ihm Hoffnung mache. Vielerorts habe man erkannt, dass Rekommunalisierung die günstigere Alternative sei. Das gehe über sämtliche Parteigrenzen hinweg. Die meisten Kämmerer hätten hauptsächlich die Finanzen im Blick und keine parteipolitischen Ziele. Die Müllentsorgung sei dafür das beste Beispiel. Die Städte Dortmund und Freiburg hätten sogar die Gebäudereinigung zurück in städtische Hand geholt und dabei positive Ergebnisse erzielt. Bei immer mehr Menschen setze sich die Erkenntnis durch, dass Bahn, Post und Energieversorgung in staatlichen Händen zum Gemeinwohl besser aufgehoben seien.

3 Gedanken zu “Von Marx und dem Kapital, das selbst vorm Galgen nicht zurückschreckt

  1. Der Bezug zu Marx während des Vortrages. Das Zitat aus dem Kapital lautet:
    „Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit, oder sehr kleinen Profit, wie die Natur von der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv und waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.“ (Karl Marx, Fußnote in Das Kapital)

  2. J.Gabel ich stimme ihnen zu 100% zu. Privatisierung ist das größte übel,da alles schlechter wird. Gerade die ÖPP Projekte Ufern ins bodenlose aus,aber das juckt die Politik überhaupt nicht. Die haben eh die Realität verloren und haben für die arbeitende Bevölkerung nichts mehr übrig. Der Witz ist nur das Mutti Merkel wieder gewählt werden wird und das kann ich absolut nicht verstehen. So doof kann eigentlich keiner sein.

  3. Die gesamte Politik weiß es! Aber keiner macht was dagegen. Aber es werden immer mehr Hartz 4 Empfänger in Land geholt.Für die eigene, normal arbeitende Bevölkerung, wird wirklich nichts gemacht. Da mal 5€ im Monat mehr Kindergeld, oder 3€ im Monat Steuerentlastung, oder 10€ mehr Wohngeld u.s.w.. Auf der anderen Seite wird gerafft ohne Ende und gesagt was wollt ihr überhaupt ich hab alles verdient. Verdient haben es die Leute die für ein“ Apfel und Ei“ arbeiten.

Comments are closed.

Schreibe einen Kommentar

Bitte logge Dich ein, um als registrierter Leser zu kommentieren.

Einloggen Anonym kommentieren